Lena Belkina, Passion for Ukraine, Solo Musica

CD: Lena Belkina „Passion for Ukraine“

Wie viele ukrainische Komponist:innen kennen Sie? Zumindest ich war vor dem Anhören von „Passion for Ukraine“ der Musik von Gregory Alchevskij, Kyrylo Stetsenko, Mykhailo Zherbin oder Illa Razumeiko nie bewusst begegnet. Zu danken ist diese sehr lohnende Möglichkeit der neuen CD-Veröffentlichung der Mezzospranistin Lena Belkina und der Pianistin Violina Petrychenko.

Die 1987 geborene ukrainische Sängerin begann ihre Karriere, wenn man so will, damit, dass sie schon als Kind öffentlich Volkslieder sang. Ihr Talent wurde dadurch früh entdeckt und sie konnte sehr jung ihr Gesangsstudium in Kyiw beginnen. Der Gewinn eines Wettbewerbs führte zu einem Engagement an der Oper Leipzig. Hier setzte sie auch ihr Studium fort, dass sie 2012 abschloss. Fast nahtlos schloss sich eine internationale Karriere an, mit Auftritten von Wien bis Tokio, auch als Carmen bei den Bregenzer Festspielen oder als Rosina im „Barbiere di Siviglia“ an der Deutschen Oper am Rhein. Eine erste, bei Sony erschienene CD, „Dolci Momenti“, schien auf eine Spezialisierung auf das Belcanto-Fach hinzudeuten. Farben und Geläufigkeit der Stimme sprachen dafür, ein schwergängiges Vibrato hemmte den Hörgenuss, ein gelegentliches Übermaß an Druck in der gesanglichen Gestaltung hinterließ Fragezeichen.

Dagegen erscheint „Passion for Ukraine“ jetzt wie ein Wunder. Das Vibrato ist hier kontrolliertes, vor allem kontrollierbares Ausdrucksmittel. Ein Hang zum Pathos ist geblieben, wie auch das Cover zeigt. Dieses wird allerdings von den Kompositionen teilweise auch eingefordert. Dazu ist die Stimme in den sieben Jahren seit „Dolci Momenti“ offenkundig schöner geworden – und wird viel besser eingesetzt. Erwähnenswert scheinen besonders die Wärme und das Klangfarbenspektrum im unteren Register und die Fähigkeit (und Möglichkeit), schlicht zu bleiben im lyrischen Ausdruck. Dazu kommt ein wunderbares Miteinander mit Violina Petrychenko, einer anerkannten Spezialistin für ukrainische Musik.

Unbekannte Musik aus einem europäischen Land

Und dann eben: diese Musik. Es beginnt mit drei recht elegischen Volksliedern. Bereits an den ausgewählten Liedern von Gregory Alchevskiy (1866-1920) überrascht, dass es sich um Frühlings- und Sommerstimmungsbilder handelt, an denen zum Beispiel die russische Liedliteratur nicht eben reich ist. Hier geht der Blick eindeutig nach Europa, wird an das deutsche Kunstlied angeschlossen und ein wenig sogar schon der mitteleuropäische Schlager vorausgedacht. Und immer wird ein Eindruck, ein Gefühl absichtsvoll geteilt. Auch wenn es um Verfall geht, oder darum, dass der Winter kommt und es kalt wird, wird nie ein Einsamkeits-Schicksal beklagt. Eher geht es um verallgemeinerbaren Weltschmerz. Bei Kyrylo Stetsenko (1882-1922), der den Ur-Chorsatz der ukrainischen Nationalhymne verfasste, kommt, sehr angenehm, eine Art Augenzwinkern dazu, besonders im „Abendlied“, einem echten Ohrwurm. Bei Mykhailo Zhervin (1911-2004) geht dann mitten im Liedsatz gleichsam Spätromantik in Moderne über – und wieder zurück. Fein gespielte Klaviersoli lassen sogar den Jazz anklingen. Melancholie ist hier Grundstimmung, sehr selbstverständlich, aber nie düster. Die drei Lieder fordern viel Stimme und Leidenschaft und stellen große technische Ansprüche. Hier begeistert Belkina ohne Wenn und Aber. Schließlich der 1989 geborene Illia Razumeiko, laut Booklet ein Freund der Sängerin, der gemeinsam mit Roman Grygoriv auch zahlreiche Musiktheaterprojekte initiiert hat. Die hier ausgewählten Stücke, darunter eine Rückert-Vertonung in deutscher Sprache, erscheinen tatsächlich wie Trauerarbeit, Miniaturen elegischen Flusses, die dabei aber nicht auf Ausdruckskraft und -differenzierung verzichten, sozusagen nicht in Schönheit sterben, sondern Leben behaupten, was sogar für den finalen, geradezu stillen Ausschnitt aus dem „Requiem für Mariupol“ gilt.

Ein ganz wesentlicher Eindruck dieses klug zusammengestellten Albums: Hier wird eine Kultur präsentiert, ein Land in Südosteuropa mit fruchtbaren Landschaften und ganz eigener musikalischer Sprache in eindeutig europäischem Kontext. Fast alles klingt gleichzeitig fremd und vertraut. Lena Belkina hat vor dem 24. Februar 2022 oft in Russland konzertiert. Jetzt tut sie es nicht mehr. Aber ihr und Violina Petrychenkos Album ist kein Fehdehandschuh, es ist Selbstbesinnung, Selbstbehauptung, Selbstvergewisserung. Und Kunstgenuss. Es erzählt uns eine Geschichte, die wir noch nicht gehört haben.

„Passion for Ukraine“ mit Lena Belkina (Mezzosopran) und Violina Petrychenko (Klavier) erscheint am 18. November beim Label Solo Musica. Das Album kann HIER als CD und Download käuflich erworben und gestreamt werden. Ein Video mit Hintergrundinformationen und Musikbeispielen gibt es HIER.