Foto: Yvon Jansen als Hekabe. © Krafft Angerer
Text:Tobias Gerosa, am 13. Dezember 2025
Archaisch, verfremdet, seltsam: Das Schauspielhaus Zürich zeigt eine symbolisch verfremdete, zwischen Antike und Heute pendelnde Euripides-Interpretation, die manchmal gern Oper wäre.
Am Schluss schwebt ein Olivenbaum vom Himmel. Lange erkennt man an seinem keimfrei verpackten, riesigen Wurzelballen nicht, ob das ein Meteorit, ein Panzer oder etwas ganz anderes ist, das alle zerdrückt. Doch nach gut anderthalb düsteren Stunden zwitschern schließlich lieblich Vögel: Ein Zeichen von Hoffnung – ein metallisches Türknallgeräusch fährt drein, dunkel. Kann aus Rache Gutes entstehen? Kann nach blutiger Vergeltung wieder Licht werden?
Euripides‘ „Hekabe“ ist ein sehr düsteres Stück. Die trojanische Königin Hekabe, Gattin des getöteten Priamos, ist darin Teil der griechischen Kriegsbeute. Ihre Tochter Polyxena (Lorena Handschin) wird für guten Wind geopfert. Ihr scheinbar rechtzeitig in Sicherheit gebrachter Sohn wird gleichzeitig als Ermordeter angeschwemmt. Was bleibt ihr als Rache? Agamemnon hilft ihr zwar nicht, ermöglicht ihr sie aber. Die Gefangene massakriert die Kinder und blendet Polymestor, der ihren Sohn nach der Niederlage der Trojaner getötet hatte.
Man könnte meinen, der Grieche Euripides habe hier die Grausamkeit der Barbaren herausstellen wollen. In seinem Stück kommen aber auch die siegesgeilen Griechen nicht gut weg. Die Frage, ob aus Rache je etwas Gutes entstehen kann – ein Olivenbaum mit idyllischem Vogelgezwitscher – ist erschreckend zeitlos.
Zwischen den Zeiten
Vielleicht hatten das griechische Regieduo Angeliki Papoulia und Christos Passalis das im Sinn, als sie ihre Zürcher Inszenierung zeitlich zwischen Altertum und Moderne ansiedelten: Die Griechen in Kostümen, bei welchen Katrin Wolfermann die Zeiten mischt, die Thraker und Troer modern. Ein konstanter Soundtrack unterlegt der Inszenierung Partysounds, Industrial-Raunen und seltsamen Singsang. Stellte man sich im Frühbarock so die antike Tragödie vor, als man die Oper als ganz neue Gattung erfand? Nicolas Fehr kompiliert eklektisch einen Soundteppich, in den sich die Titelfigur als Hauptstimme einfügt – mit sehr seltsamen Brüchen, wenn plötzlich Bob Marley singt oder Agamemnon „Yesterday“ karaokt. Matthias Neunkirch kann auch das. Er und Lena Schwarz als Dienerin zeigen zudem, wie der doch sperrige Text lebendig gemacht werden kann.
Als Hekabe ist Yvon Jansen fast ununterbrochen auf der Bühne und ihr Mikroport vergrößert Atemgeräusch oder Ächzen überdimensional. Dafür bleibt sie in ihren Aktionen meist reserviert, ja kühl: den Blick fest und unbewegt, noch im Schmerz ein Lächeln der Verzweiflung zwischen den Lippen. Wenn sie am Schluss Rache genommen hat, wirkt es plötzlich böse. Diese Ambivalenz macht die Rollenzeichnung spannend.
Zu wenig oder zu viel?
Die Bühne zeigt den Bauch eines stählernen Schiffes – offenbar der Laderaum, in dem die versklavten Troerinnen eingesperrt sind. Vermummte Verladearbeiter schneiden mit Taschenlampen durchs Dunkel, ein Leichensack fällt vom Himmel. Márton Ághs Bühne, mit immer wieder flackerndem, das Unwirtliche betonendem Licht, ist kein Raum, in dem man sein möchte. Sobald eine Tür geöffnet wird, wabern die Beats der Siegerparty herein. Und das passiert oft, denn während die Leichen in Säcken hereingeworfen werden, jagt der gedoppelte, sehr queere Talthybios (Henri Mertens und Mervan Ürkmez) immer wieder Troerinnen: Laina Schwarz und die bei der Premiere eingesprungene Birgit Walter bilden den Zweifrauenchor. Einmal gefasst, werden sie mit Geweihen markiert – eines der rätselhaften Zeichen der Inszenierung, in der Hekabes Kinder auch als Rehe unter Wölfen auftreten.
Die Bilder sind gerade in ihrer Rätselhaftigkeit stark. Bei der Textfassung irritiert der Wechsel von antikisierenden und modernisierten Teilen (teilweise mit modernen Einfügungen). Auch der Rhythmus kommt nicht ins Schwingen zwischen hektischen und sehr ruhigen Szenen. Will der Abend zu wenig oder zu viel? So verlässt man das Schauspielhaus gleichzeitig angeregt wie ratlos.