Foto: Heiko Trinsinger (Cardillac) thront vor dem Opernchor. © Matthias Jung
Text:Richard Lorber, am 7. Dezember 2025
Am Aalto-Musiktheater Essen inszeniert Regisseur Guy Joosten Paul Hindemiths „Cardillac“. Die Oper handelt von einem mörderischen Goldschmied, der seine Taten mit der Liebe zur Kunst rechtfertigt. In Essen überzeugt die Inszenierung mit romantischer Musik und emotionalem Ensemble.
Die Psychologie kennt das sogenannte Cardillac-Syndrom. Ein Phänomen, wenn sich ein Künstler nicht von seinem Werk trennen kann, weil er sich so sehr mit dem von ihm Geschaffenen identifiziert, dass jede Hergabe einen Identitätsverlust bedeutet. Bei dem Goldschmied Cardillac geht diese Störung so weit, dass er die Käufer seiner Schmuckwerke ermordet. E. T. A. Hoffmann hat diese Geschichte in seiner Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“ aufgeschrieben, die als erste deutsche Kriminalnovelle gilt. Paul Hindemith hat daraus eine Oper gemacht, die 1926 unter Fritz Busch in Dresden uraufgeführt wurde und sofort an vielen anderen Bühnen nachgespielt wurde.
Die Handlung ist im Paris des 17. Jahrhunderts angesiedelt. Bei der Inszenierung von Guy Joosten, die 2019 bereits in Antwerpen zu sehen war und nun am Aalto-Theater in Essen herauskam, spielt das Stück in den 20er-Jahren. Das kann man allerdings nur an der Kleidung erkennen, in der das Volk, der Kavalier, die Dame, der Offizier, die Tochter und der Goldhändler auftreten. Dieser ist als chassidischer Jude erkennbar, womit Joosten an die Diamantenstadt Antwerpen anspielt, in der es eine große jüdische Gemeinde gibt.
Spaß am Crossdressing
Dieser Goldhändler wird in der Oper vom Offizier als der Mörder bezichtigt, obwohl er längst weiß, dass Cardillac selbst die Käufer seines Schmucks tötet, was er am Ende auch gesteht. Der Offizier, der um die Hand von Cardillacs Tochter angehalten hat, bezeichnet ihn im Schlussgesang als einen Helden, als Opfer eines „heil’gen Wahns“. Diese Glorifizierung einer psychischen Störung deutet Guy Joosten geschickt um, indem er die Figur des Cardillac als einen unangepassten, unkonventionellen Lustmenschen zeigt, der Spaß am Crossdressing hat.
Auch an der eigenen Überhöhung, indem er sich Königsinsignien umhängt, sich in Bergen von goldenen Kissen badet, anstatt in seiner Werkstatt an Schmuckstücken zu arbeiten, und als exaltierter Narr durch die Szene geistert. Er ist das Gegenbild zu den schwarz-grau-weiß Kostümierten. Heiko Trinsinger spielt den Cardillac mit dem Ausdruck von wahnhaftem Ernst und singt mit durchdringender Präsenz. Ein Held im bizarren Ornat ist er durch seinen Lebensstil, nicht durch sein Werk.

Andreas Hermann (Offizier), Heiko Trinsinger (Cardillac), und Betsy Horne (Tochter). Foto: Matthias Jung
Parallelen und Kontraste
Interessant an der Rollenkonzeption Hindemiths ist die Parallele zwischen Kavalier und Offizier. Der eine stirbt in seiner Liebesnacht im ersten Akt, der andere entgeht dem Anschlag. Die beiden Tenöre Sam Furness und Andreas Hermann singen ihre Partien auch in einer ähnlichen aufgeregten Haltung. Der Kavalier seine Arie „Waagschalen der Welt“ mit großer Linie, seinen Tod schon ahnend. Der Offizier mit fordernder Unbedingtheit „Unter Küssen versprachst du gestern Nacht mit mir zu fliehen“. Beide Rollen werden hier mit fast operettenhafter Tenoremphase ausgestattet, was, wenn man Hindemiths sparsamen Orchestersatz dagegenhält, einen ironischen Anklang erzeugt.
Demgegenüber steht Betsy Horne als Tochter, die man in ein graues, maskulines Kostüm gesteckt hat. Sie zeigt schüchterne Zurückhaltung, hin- und hergerissen zwischen Vaterliebe und Fluchtgedanken, während Astrik Khanamiryan als Dame in ihrem Solo-Lied in großem romantischen Ton zu den lockenden Tönen der Solo-Oboe die Liebesnacht mit dem Kavalier imaginiert.
Neobarock romantisiert
Stilistisch zählt „Cardillac“ zum neobarocken Stil. Das Orchester ist klein besetzt. Die Pantomime am Ende des ersten Akts ist als Concertino für zwei Flöten angelegt, das Duett von Cardillac und seiner Tochter als Fuge. Die Musik gewinnt durch die an der Instrumentalmusik orientierten Formen eine große Eigenständigkeit gegenüber der Szene. Der mit Dissonanzen gewürzte neobarocke Tonfall kann aber auch plappernd und penetrant wirken. In Essen gelingt Dirigent Patrick Lange es, die großen Linien herauszuarbeiten und die Musik, wo immer nötig, neu zu romantisieren. Etwa mit dem ausladenden Orchester-Unisono im Duett von Offizier und Tochter. Dazu passt als Kontrast, wie er in der Arie der Tochter „Mein Geliebter kommt“ die kammermusikalischen Strukturen herausstellt. Das klingt wie ein barockes Stück mit Violine, Oboe und Horn.
„Ich will … nur sagen, dass ich nicht für nötig halte, dass zu einer guten Oper unbedingt ein starker Schuss Romantik gehört“, sagte Hindemith kurz bevor er mit der Komposition loslegte. Sowohl von der Szene als auch von der Musik her konnte die Essener Produktion von Hindemiths erster abendfüllender Oper „Cardillac“ ihn da eines Besseren belehren.