Begegnung auf Augenhöhe
Foto: Der aktuelle Jahrgang des Studiyou: (v. l.) Tim Alberti, Marvin Löffler, Nora Krohm, Flora Li und Aline Blum. © Anna Schwartz Text:Andreas Falentin, am 17. März 2025
2019 gründeten das Schauspiel Wuppertal und sein Intendant Thomas Braus das Studiyou, das erste inklusive Studio für Schauspieler:innen. Fazit nach fünf Jahren: eine erfolgreiche Idee.
Wir lernen gemeinsam“, sagt Thomas Braus immer wieder. Als der langjährige Wuppertaler Schauspieler 2017 zum Intendanten des Wuppertaler Schauspiels gekürt wurde, entschloss er sich, mit der Wuppertaler Akademie der inklusiven Künste e. V. Glanzstoff zu kooperieren, indem er einmal im Jahr eine inklusive Produktion auf seiner Theaterbühne zeigte. So kam man auch ins Gespräch über Ausbildung, das immer um die Frage kreiste: „Warum gibt es keine Schauspielschulen für Menschen mit Behinderung?“ Braus wollte das ändern.
Er forschte in umliegenden Schauspielstudios nach und entwickelte ein Konzept. Über das Programm Neue Wege des Landes NRW gelang es ihm, sein Herzensprojekt erst für drei Jahre zu finanzieren und diese Förderung dann, durch viele Besprechungen mit dem Kultusministerium, wo das Studiyou als „Leuchtturmprojekt“ klassifiziert wurde, bis 2028 auf festem finanziellen Niveau zu verstetigen.
Fünf Studienplätze
Auf die fünf Studienplätze für psychisch, kognitiv oder körperlich eingeschränkte Menschen, die das Studiyou anbietet, melden sich inzwischen Bewerber:innen aus dem ganzen Bundesgebiet. Das Casting ist vergleichbar mit dem von „normalen“ Schauspielschulen, schließlich steht am Ende eine Abschlussprüfung vor der ZAV Künstlervermittlung.
Das Studiyou bildet also für den ersten Arbeitsmarkt aus. Wichtig ist trotzdem: „Wir lassen uns Zeit“, betont Thomas Braus. Die Studienzeit wird individuell angepasst, weil die Student:innen unterschiedlich lang brauchen, um sich fallen zu lassen, Zuversicht und Vertrauen, vor allem Selbstvertrauen aufzubauen. Vier Tage in der Woche wird gearbeitet. Es gibt Körpertraining, viele Grundlagen, klassisches Rollentraining, auch Sprecherziehung und Gesangsunterricht in Kooperation mit der Wuppertaler Musikhochschule.
Dazu kommt die Mitarbeit im Ensemble des Schauspielhauses Wuppertal in einzelnen Repertoireaufführungen und eigentlich immer im Familienstück. Hier stehen die Studiyou-Mitglieder im Mittelpunkt, eben weil sie sich auch auf der Bühne anders, individuell auf Menschen zubewegen. So entstehen zarte, sehr witzige Miniaturen, die ausgerichtet sind auf das Zusammenspiel. Figuren und Bilder sind wichtiger als eine Geschichte. Das geht so weit, dass etwa die Debütinszenierung „Schneewittchen“ (2021) oder die „Schneekönigin“ in diesem Jahr fast als absurdes Theater durchgehen und trotzdem das Herz wärmen. Die Studiyou-Mitglieder, die kostenfrei studieren, bekommen für ihre Bühnenauftritte Gage.
Barrierefreiheit?
Weiteren Lernbedarf gab es bei der räumlichen Situation: Sind die Wuppertaler Bühnen (die meisten Proben finden im Opernhaus statt) tatsächlich barrierefrei? Lächelnd erzählt Thomas Braus: „Ich habe mal mit einer Intendantin über Inklusion gesprochen, sie hat gesagt, das geht bei uns noch nicht, weil wir noch nicht barrierefrei sind. Da habe ich gesagt: Dann wirst du nie Inklusion schaffen. Wir sind hier nicht barrierefrei, aber haben trotzdem gesagt: Ja, wir machen dieses inklusive Studiyou. Wir haben jahrelang gewartet, bis wir eine rollstuhlgerechte Toilette hatten. Die Wege sind lang, aber man muss einfach anfangen und daran arbeiten.“

„Schneewittchen“, 2021, mit Julia Meier in der Titelrolle und (v. l.) Nora Krohm, Thomas Braus, Kevin Wilke, Tim Alberti, Aline Bluhm und Stefan Walz als Zwerge. Foto: Uwe Schinkel
Alles ist neu: die Arbeit mit individuellen Bedürfnissen der Studierenden, wobei die meisten Dozent:innen und das Umfeld des Studiyou ohne Expertise aus der Behindertenpädagogik ihre Arbeit aufgenommen haben. Wie baut man Bühnenbilder, die barrierefrei sind, wie Kostüme, die die inklusiven Künstler:innen anziehen können? Fragen über Fragen.
Neue Strukturen
Durch die finanzielle Verstetigung, die „sehr starke Unterstützung“ des Landes, wie Thomas Braus sagt, konnte das Theater zwei Stellen schaffen, die das Lernen und das Bestehen der Aufgaben unterstützen sollen. Marie Collette, vorher Pressereferentin des Theaters, ist jetzt Inklusionsagentin, kümmert sich um Kommunikation und Vernetzung des Studiyou, befördert Kooperationen etwa mit dem Kölner Theater der Keller oder der Essener Folkwang Schule und begleitet die Absolvent:innen auch nach der Prüfung vor der ZVA in den ersten Arbeitsmarkt hinein.
Und da gibt es durchaus Erfolge zu vermelden: Tim Alberti hat im Fernsehen Fuß gefasst, Yulia Yáñez Schmidt, die erste Absolventin, spielt im Ensemble des Jungen Schauspiels Düsseldorf und hat auch eine Fernsehserienrolle ergattert. Alle drei Absolvent:innen bestanden die ZVA-Prüfung 2024 bravourös. Dazu begleitet und unterstützt Ramazan Kirca als Inklusionsassistent die Student:innen bei der Barrierefreiheit in Arbeitsalltag und Freizeit. „Ich weiß, wie das ist, mit einem Handicap auf der Bühne zu stehen“, sagt der kleinwüchsige Kirca. Gefragt, was ihm an der neuen Arbeit gefällt, sagt er nur ein Wort: „Augenhöhe.“
Immer gemeinsam
Und die wird wirklich praktiziert am Schauspiel Wuppertal, vom Intendanten bis zum inklusiven Schauspieler, das merkt man in Gesprächen deutlich. Diese entspannte Atmosphäre stimmt einen froh und kann ein Vorbild für viele Theater sein – und ein stabilisierender Faktor für die Student:innen, was auch für das Zusammenwachsen der beiden Ensembles zu einem gilt. „Als ich das erste Mal mit dem Ensemble auf der Bühne gestanden bin, haben gefühlt alle ihre Hände ausgestreckt und mich hochgehoben“, sagt die Absolventin Nora Krohm. Vielleicht kommt dieser besondere Zusammenhalt daher, dass es in Wuppertal „ein kleines, familiäres, langjähriges Ensemble“ gibt, vermutet die Dozentin Johanna Landsberg. Ein kleines Wunder bleibt dieses Gefühl.
Auch die Beziehung zum Publikum stimmt, selbst wenn es einen kleinen Prozentsatz gibt, der fragt: „Will man so etwas auf der Bühne sehen?“ Trotzdem ist das Studiyou in Wuppertal zweifellos ein Erfolg. Im Februar werden neue inklusive Schauspieler:innen gecastet. Nur eine Sorge treibt den Intendanten um: „Es geht darum, eine Zukunft zu gestalten, die über meine Person hinausgeht.“ Er hat die Arbeit – und die Finanzierung – immer wieder angekurbelt, aber noch ist das Studiyou nicht fix. „Es muss ein künstlerisches Markenzeichen des Theaters werden, in Wuppertal und anderswo, mehr als die Idee eines Intendanten.“
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr.2/2025.