Den Stoff nehmen und abspringen
Foto: „Im Spiegelsaal“ am Staatsschauspiel Dresden © Sebastian Hoppe Text:Karolin Berg, am 24. Januar 2025
Mit Werken der schwedischen Zeichnerin Liv Strömquist kommen nun auch Comics auf die Bühne. Die Inszenierungen am Staatsschauspiel Dresden, an der Neuen Bühne Senftenberg und am Jungen Schauspielhaus Hamburg zeigen: Mit eigener Haltung zur Vorlage funktionieren sie hervorragend.
Die Bücher der schwedischen Comiczeichnerin Liv Strömquist sind erhellend, fundiert recherchiert und seit „Der Ursprung der Welt“ aus dem Jahr 2017 zudem äußerst populär. Im Spätherbst 2024 erschien ihr mittlerweile siebter Band auf Deutsch, „Das Orakel spricht“. Strömquists Themen sind politisch, feministisch, mit Witz, Sarkasmus und Scharfsinn gezeichnet und via Sprechblase auf den Punkt gebracht. Auch den Theatern ist dieser hochaktuelle Stoff nicht entgangen. Doch was für ein Theater entsteht aus einer Comicvorlage? Eignet sich Strömquist überhaupt für einen Transfer auf die Bühne?
Strömquists Graphic Novels
Einen Comic, dessen Inhalt auf die Bühne zu bringen, bedeutet zunächst einmal vom zwei- in den dreidimensionalen Bildraum zu wechseln. Die Bände der Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist gehören der Comicgattung Graphic Novel an. Charakteristisch für diese ist neben der erzähl-zeichnerischen Ästhetik ein literarischer Anspruch sowie hohe Informations- und Wissenswerte. Graphic Novels parodieren nicht nur, sondern suchen die Melange aus thematischer Ernsthaftigkeit und leicht konsumierbarer Gestalt.

Die schwedische Comiczeichnerin Liv Strömquist. Foto: Emil Malmborg
Sie setzen Individuen in gesellschaftliche Kontexte, basieren auf philosophischen, historisch-kulturwissenschaftlichen Theorien oder biografisch-dokumentarischem Material. Auch Strömquist tritt kommentierend als Figur in ihren Werken auf, sie wendet sich direkt an ihre Leser:innen. Die 46-jährige Schwedin gliedert ihre Bände in Essays, Kapitel, Rankings, ihre gesellschaftskritischen Thesen belegt sie mit Quellenangaben. Sie betreibt gesellschaftliche, feministische Aufklärungsarbeit, indem sie diskriminierende Kulturgeschichte und sexistische Zeitgeister entlarvt, geschlechtliche Asymmetrien der Geschichte und tradierte patriarchale Denkmuster aufdeckt.
Senftenberg: Sag es engagiert!
In „Der Ursprung der Welt“, das in der Inszenierung Karin Herrmanns an der Neuen Bühne Senftenberg im Rahmen des Festivals Werkstatt Theater zu sehen war, geht es um die Rolle der Frau, zugeschrieben wahlweise von Religion oder Wissenschaft – jedenfalls von Männern –, sowie um die Tabuthemen weibliche Sexualität und ihr Geschlechtsorgan.
Die Senftenberger Studiobühnen-Produktion wird von drei Spieler:innen getragen, die Bühne ein ortloser, amorph-diffuser Raum (Ausstattung: Ida Herrmann). Frontal zum Publikum erläutern sie, ordnen ein, kommentieren kopfschüttelnd die abstrusen männlichen Ergüsse, wie dämonisch das Weibliche sei. Zu sehen sind keine Figuren. Vielmehr wirken die Spieler:innen bühnenprivat, wie Projektionsflächen für Strömquists Texte.
Historische Persönlichkeiten, die in der Graphic Novel auftauchen – Freud, Augustinus, Sartre, Dr. Baker-Brown – transformieren sich auf der Bühne in Stabköpfe oder -figuren augenrollend, mit Klappmäulern oder beweglichen Armen. Die historischen Darstellungen der Vulven sind als Puppen exakt nachmodelliert. Dann plötzlich im Dunkel des Raumes Stimmen von Mädchen und Frauen. Aus der Anonymität sprechen sie über ihre sehr persönlichen Erfahrungen und Gefühle der Scham, Unsicher- und Unwissenheit, und die Fassung löst sich von der Vorlage. Die Stimme tritt an die Stelle der Bilder, das Reale trifft auf den Theaterraum.

„Der Ursprung der Welt“: Gynäkologe Isaac Baker-Brown in der Inszenierung an der Neuen Bühne Senftenberg. Foto: Steffen Rasche
Aus der Comicvorlage entsteht hier ein Theater, das sich Mitteln des Objekt- beziehungsweise Figurentheaters bedient. Das Theatrale wirkt am stärksten, wenn das Reale hereinbricht oder wummernde Beats atmosphärische Dichte schaffen. Ein Phänomen, das dem dokumentarischen Theater mitunter anhaftet, findet sich auch hier: Der referierende Duktus – es fehlt ein spielerischer Rahmen, der über den Comic hinausgeht. Alles wird körperlich verausgabend und extrem engagiert gesagt. Der Erzählfortgang wird durch ein immenses Mitteilungsbedürfnis und die betonte Wichtigkeit des Inhalts angetrieben.

„Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist. Foto: avant-verlag
Dresden: Theater unter Wasser
Die Inszenierung Katrin Plötners von „Im Spiegelsaal“ am Staatsschauspiel Dresden beginnt mit einem überwältigenden Aufbau. Alles in dieser Welt ist drüber, alles schrill. Auch hier treten die sieben Schauspieler:innen an die Rampe, brechen im nächsten Moment damit, suchen das Dialogische untereinander, brechen es wieder und springen in die nächste Sequenz – ebenfalls mit viel Druck. Der referierende Ton ist hier jedoch wesentlich schwächer. Woran liegt das? These eins: Die Tatsache, dass hier mehr als doppelt so viele Schauspieler:innen besetzt sind, trägt zu einem flüssigen Pingpong-Spiel der dialogstörrischen Vorlage bei. These zwei: Die Dresdner Inszenierung spielt in einem klar definierten Raum, nämlich einer märchenhaft übersteuert bunten, völlig abgefreakten Unterwasserwelt, in der irgendwie geartete Wesen agieren. Die Meerjungfrau, Kylie Jenner, Oktopus, Delfin und Qualle werden zwar nicht stringent beibehalten, trotzdem entsteht ein – wenn auch flüchtiger – Charakter, der das Gesagte einfärbt. So lassen sich Beziehungsemotionen aufbauen, der Druck wirkt in die Situation, die dadurch Konturen bekommt.
„Im Spiegelsaal“ thematisiert die an (junge) Frauen herangetragenen, tradierten, aber fluktuierenden Schönheitsideale, deren Steigerung durch Social Media und mit der Influencerin Kylie Jenner als Klick-, Like- und Ausgangspunkt. Dabei entsteht in Dresden ein Theater, das den Transfer ins Artifizielle unternimmt. Ohne große Striche durchläuft die Inszenierung die literarische Vorlage. Zugleich stellt Plötner überhöht aus: Man weiß um den Comic, aber das ist Theater (inklusive Samtvorhang). Und deswegen fährt man alles auf, was eine Obermaschinerie hergibt, bläst das Bühnenbild zu einem raumfüllenden Hautlappen oder Unterwasserkrater auf (Bühne: Bettina Pommer), der wieder in sich zusammenfällt.
Hamburg: „Be real, Leute!“
Das Junge Schauspielhaus Hamburg inszeniert „Im Spiegelsaal“ bemerkenswert als SchauSpielRaum-Produktion mit Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren. Die Spielfassung, gemeinsam entwickelt von der Regisseurin Meera Theunert, Dramaturgin Sofie Boiten und dem jungen Ensemble, fokussiert sich auf Aspekte der Graphic Novel, die die neun Jugendlichen als ihre Erfahrungswelt identifizieren. Sie benutzen Strömquist als Sprungbrett, um ihr eigenes Ding zu machen: Und in diesem, ihrem Kompetenzbereich sind sie sehr authentisch. Die Jugendlichen sind Social-Media-Experten, wissen um die Schönheitswahnbilder. Das Reale bricht hier durch die Spieler:innen selbst herein. Sie kennen die digital-(a)sozialen Mechanismen, kommentieren sie mal ironisch, mal ernsthaft, ziehen Linien zum Gerichtsprozess gegen Mark Zuckerberg oder zu Maximilian Krah. Auch sie sprechen zum Publikum, aber mit einer leichtfüßigen Selbstverständlichkeit, dass es etwas Beiläufiges ausstrahlt.

„Im Spiegelsaal“-Illustrationen aus Liv Strömquists gleichnamigem Comic. Foto: avant-verlag
Selbst die verwickeltsten philosophischen Thesen legen sie virtuos dar. Auch sie erfinden Charaktere. Hier in Gestalt von Blume, Raubtier, Skelett, Engel, Queen, Schlafanzug, dem eigenen Maßstab, Haaren und Dekoration. Die Spielfassung kontrastiert hoch theoretische Exkurse, wie die mimetische Rivalität René Girards, mit ihrer schmissigen Jugendsprache.
Völlig organisch
Wirken die Charaktere dort wie virtuose Dilettanten, die sich durch das Artifizielle und hinter der sichtbar abblätternden Gesichtsmaske den Schein der Selbstsicherheit bewahren wollen, lassen sie sich hier in ihre Expertise fallen. „Be real, Leute!“ Die bekloppten Ansichten des Bischofs Gregor von Nyssa, der Frauen mahnte, bloß nicht in den Spiegel zu schauen, um sich ihrer Schönheit zu vergewissern, werden gegangsterrappt: „Schämst du dich nicht, du Lehmkloß?“
Das Smartphone als Trägermedium des Übels ist live und vielfach projiziert dabei. Das wirkt völlig organisch, egal ob sie über die Schneewittchen-Challenge labern oder ein TikTok-Video à la Andrew Tate aufnehmen, in einer irrwitzig selbstreflexiven, sarkastischen Weise. Da bequatschen Queen und Dekoration in Football-Schutzausrüstung breitbeinig die Kamera, Frauen seien an allem schuld, quasseln vom Gym, Proteinshake und fordern schreiend much more energy von ihrer Audience. „Pushen, Leute!“
Resümee: Haltung zur Vorlage entwickeln
Stellt man die drei Inszenierungen gegenüber, fällt auf: Alle spielen auf Tempo, Körperlichkeit, bauen Musikalisches ein, verweisen eingesprenkelt auf die Comicästhetik in Form von Stabköpfen, Puppen, lautmalerischer Sprache, aufgesetzten Zeichentrickaugen oder Philosophenbärten. Andererseits hat jede etwas eigenes Theatrales aus Strömquist destilliert, was sich mal mehr, mal weniger von ihr emanzipiert. In Senftenbergs „Der Ursprung der Welt“ liegt es im Aufbrechen der Bühnenhandlung mittels realer Interviews und im Spiel des Objekttheaters, in Dresden im Ureigenen des Theaterspiels, in einer fantastischen Welt, in der alles möglich ist. Und zuletzt in Hamburg kreieren die Jugendlichen einen authentischen Expertenraum, der durch ironische Identifikation funktioniert.
All diese Ausformungen sind möglich, weil der Comic die Leerstelle lässt. Strömquist sollte gespielt werden – unabhängig vom Budget, an großen und kleinen Häusern, mit oder ohne Budenzauber, von jungen Expert:innen oder Schauspieler:innen jedweden Alters. Strömquist lässt enorm viel zu. Aber dieser Raum muss gefüllt, sich zu eigen gemacht werden. Statt bloßer Reproduktion liest man lieber die Graphic Novel im Original. Das Theatrale liegt im Mut des Sich-Lösens von der Vorlage. Den Stoff nehmen und abspringen. Wenn die Differenzen des Dispositivs betont werden und eine Haltung dazu entwickelt wird, dann kann der Transfer auf die Bühne gelingen.
Karolin Berg wurde zum ersten Mal 2022 auf dem Erlanger Comicsalon auf Liv Strömquist aufmerksam und saß ihr zufällig ein Jahr später in der Tram 16 auf dem Weg zur Leipziger Buchmesse gegenüber.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr.1/2025.