Foto: Valeria Prautsch und Mayra Bosshard (stehend, vlnr.), Elias Popp (sitzend)
© Peter Schlipf
Text:Manfred Jahnke, am 23. November 2025
Am Theater Aalen erzählt Simone Kuchers Roman „Die lichten Sommer“ von vier Generationen und der Frage: Bleibt man Flüchtling für immer? Die Inszenierung von Tonio Kleinknecht arbeitet mit schnellen Rollenwechseln und bleibt nah am Roman.
Ist ein Flüchtling immer ein Flüchtling, lebenslang und die nächste Generation gleich mit? Diese Frage betrifft eine gegenwärtige Diskussion. Geschichtsvergessen, wie wir es nun einmal sind, übersehen wir, dass wir in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg Millionen Vertriebene und Flüchtige aufgenommen haben. Vor Ort wurden diese selten willkommen geheißen. Sie wurden gemieden. Weil sie in Barracken als Notunterkünfte leben mussten, wurden sie als Asoziale abgestempelt – und selbst, wenn sie in geordneten gesellschaftlichen Verhältnissen sich hinauf arbeiteten: Sie blieben Fremde, Flüchtlinge.
Flüchtling sein in Schwaben
Was dieser Stempel „Flüchtling“ mit Menschen nach dem Krieg gemacht hat, erzählt Simone Kucher in ihrem Roman „Die lichten Sommer“. Es ist die Geschichte von Liz, die nach dem Krieg in einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Ostalb aufwächst, tagsüber in der Batteriefabrik arbeitet, abends den Eltern in der Kneipe hilft. Sie lernt Robert kennen, der sie heiratet, mit ihr drei Kinder zeugt – und doch, wenn es für sie darauf ankommt, sie für ihn Flüchtling geblieben ist. Sie wird darüber depressiv, versucht einen Suizid. Ein Arzt schickt sie schließlich auf Kur nach Sylt.
In seiner Fassung erzählt Tonio Kleinknecht, der auch Regie führt, diese Geschichte aus zwei Rückblenden heraus. Vier Generationen werden in „Die lichten Sommer“ verhandelt: Da ist einmal Liz, die ihre Geschichte aus der Perspektive ihrer Syltreise erzählt. Aber da ist auch ihre Mutter Nevenka, die nicht nur die Geschichte ihrer in Tschechien deutschstämmigen Eltern – Olina und Adam – spielend nacherlebt. Mehr noch stehen die Erlebnisse ihrer eigenen Kindheit im zweiten Weltkrieg – die lichten Sommer – im Zentrum, insbesondere ihre Freundschaft zu Zena: Sie verschwistern sich als Amazonen. Unmittelbar nach Ende des Kriegs tauschen sie die Armbinde, die Nevenka als Deutsche kennzeichnet, die vertrieben werden muss. Sie hat im Spiel die Armbinde mit Zena getauscht, als die Tschechen auftauchen und sie verfolgen. Nevenka wird sie nie wiedersehen.
Es bleiben die Schuldgefühle
Viele Schuldgefühle werden in dieser Inszenierung thematisiert, die mit dem Bühnenbild von Ana Tasic ein schlüssiges Konzept gefunden hat. Eine zweiteilige Wand zeigt eine idyllische Baumkrone, wenn es um die Kinderjahre der Nevenka geht. Ihre Naivität verdeutlicht Valeria Prautsch gegenüber ihrer neuen Freundin aus Prag in eindrucksvoller Weise. Als Erwachsene im Pelzmantel wirkt sie verhärmt: Ihre Geschichte bildet sich auf ihrem Gesicht ab. Wenn es um die Geschichte der Liz geht, werden die Wände schwarz und es sind Jahreszahlen darauf zu sehen, wie „1967 Ostalb“. Gleich bleibt ein Baumgerippe, das verschieden angespielt wird – und auf dem man auch einmal ausruhen kann.
Tonio Kleinknecht lässt ein dreiköpfiges Ensemble agieren, mit schnellen Rollenwechseln, die – wie im Erzähltheater üblich – mit einfachen Kostümwechseln angedeutet werden. Oft geschieht dieser Wechsel auf offener Bühne, manchmal beenden Blackouts eine Szene, da bleibt die Inszenierung unentschieden. Elias Popp spielt u.a. den Robert als fürsorglichen Ehemann, der der bei allem aufgesetztem Gehabe dennoch keine Empathie entwickeln kann. In dieser Inszenierung ragt Mayra Bosshard heraus, die der Liz starke Töne einer Frau gibt, die sich ständig in eine Opferrolle gedrängt sieht – und sich damit nicht einverstanden erklärt. Sie sieht, dass ihre Versuche, sich aus ihrem Dilemma zu befreien, nicht ihr Ziel erreichen.
Bleibt die Angst vor dem Fremden?
Als Zena in der Begegnung mit Nevenka entfaltet Bosshard das Bild eines emanzipierten Mädchens aus der Großstadt. Die Regie von Tonio Kleinknecht treibt dabei Bosshard und Prautsch in lärmende Kinderbalgereien. Die Inszenierung bleibt dabei nahe am Roman von Kucher. Die Regie rahmt die Vorlage ein in die Geschichte vom Glasmännchen aus dem „kalten Herz“ von Hauff, der Sonntagskindern drei Wünsche freistellt. Am Ende äußert Liz ihren ersten Wunsch: als Frau anerkannt zu sein.
Kleinknecht ist mit „Die lichten Sommer“ eine Inszenierung gelungen, die aufmerksam macht auf eine verdrängte Geschichte: wie einmal Einheimische mit den Fremden aus dem Sudetenland umgegangen sind – aus Angst vor dem Fremden. Und heute?