James Kirby Rogers und Ensemble in „Vertical Road“ aus dem Doppelabend „Wings and Feathers“ von Stephanie Lake und Akram Khan an der Semperoper Dresden.

Angestaubt?

Stephanie Lake, Akram Khan: Wings and Feathers

Theater:Semperoper Dresden, Premiere:08.11.2025

Am Semperoper Ballett treffen Stephanie Lakes „Colossus“ und Akram Khans „Vertical Road“ aufeinander. Zwischen synchroner Masse und staubigem Bilderrausch verhandelt der Doppelabend Zugehörigkeit und Ausschluss körperlich spürbar. Ein präzise gebauter Abend mit starken Bildern.

Am Ende kann er doch noch richtig aufdrehen. Endlich tanzt Jón Vallejo, als gehe es um sein Leben, nachdem er zuvor vor allem zum Zuschauen und Wandern über die Bühne verdammt war. Dann fällt der Vorhang – auf der Hinterbühne – und seine 12 Mittänzer:innen sind verschwunden, die ihn die letzten 45 Minuten geplagt, weggeschickt, ja, fortgejagt hatten und zuletzt wie Geister hinter diesem Vorhang auftauchten. Nur ein wenig Nebel und vielleicht ein wenig Staub zeugen noch von ihrer Existenz. Formvollendet bricht der erste Solist zusammen. Ende, Aus, Vorbei.

Es ist der dramatische Schluss von Akram KhansVertical Road“, das an der Semperoper Dresden seine Premiere hatte. Erstmalig übersetzt das dortige Ballett die Tanzsprache Khans auf seine Bühne. Das Stück selbst wurde 2010 uraufgeführt und ist 2023 in einer Reimagined-Fassung in Boston herausgekommen. Beides floss in die Dresdner Choreografie ein. Zusammen mit dem 2018 uraufgeführten „Colossus“ der australischen Choreografin Stephanie Lake, derzeit Artist in Residence am Semperoper Ballett, bilden die beiden Stücke den Doppelabend „Wings and Feathers“.

Der Titel stammt aus der englischen Übersetzung eines Gedichts des mittelalterlichen persischen Mystikers Rumi, trägt aber nicht wirklich zur inhaltlichen Erhellung des Abends bei, sondern muss vielmehr als dramaturgische Extravaganz gelten. Immerhin, ein bisschen Extravaganz kann sich die Semperoper bei diesem Doppelschlag durchaus leisten.

Kolossaler „Colossus“

Den Start macht Stephanie Lake, die nicht nur auf das Semperoper Ballett zurückgreift, sondern zudem die Eleven und weitere Studierende der Palucca-Schule verpflichtet. Über 50 Tänzer:innen in schwarzen, nicht ganz einheitlichen Kostümen tanzen 50 Minuten lang verschiedene Stationen von Kollektiven und ihrer Leitung durch.

Das Tanzensemble von „Colossus“ aus dem Doppelabend „Wings and Feathers“ von Stephanie Lake und Akram Khan an der Semperoper Dresden.

Das Tanzensemble in „Colossus“ von Stephanie Lake an der Semperoper Dresden. Foto: Admill Kuyler

Die scheinbar urwüchsige Demokratie des Urzustands, in dem alle in einem Kreis liegen und wellenförmig Bewegungen durch ihre Körper jagen, wird bald zugunsten der zentralisierten Leitung aufgegeben. Klar dirigierend steht eine Tänzerin in der Mitte und lässt Beine, Hände und Körper der Liegenden auf- und abschwingen.

Hierarchie und Masse, dieses Motiv führt durch den Abend. Ob in der Anordnung eines Klassenfotos, bei dem die Bewegungsanweisungen von einer Computerstimme auf die Tanzenden niedergehen, ob in der Organisation von Kleingruppen oder auch der Umkehrung des Anfangsszenarios, bei dem die Vielen dem zentralen Individuum den hämmernden Takt vorgeben. Dazu hat Robin Fox einen elektronisch-kristallinen Soundtrack komponiert, der sich über das Treiben wie ein glänzendes Netz legt.

Die Figur des Kollektivs ist dabei alles andere als unproblematisch. Wenn es stumpf im Gleichschritt über die Bühne marschiert, ist das zwar faszinierend, aber zugleich wird einem mulmig. Wenn es sich danach in eine ungezwungene plauschende Gruppe auflöst, währt dieser Frieden nur kurz, denn kurz darauf wird die Menge zum aggressiven Mob, der einen PoC-Tänzer über die Bühne jagt.

Damiano Felici und Ensemble in „Colossus“ aus dem Doppelabend „Wings and Feathers“ von Stephanie Lake und Akram Khan an der Semperoper Dresden.

Damiano Felici und Ensemble in „Colossus“. Foto: Admill Kuyler

Technisch ist das vielköpfige Ensemble, das in dieser Vielfalt auch selten zusammen tanzt, hervorragend und das macht die Implikationen umso erschreckender, da ja gerade aus dieser Perfektion und ungebrochener Synchronität das totalitäre Gespenst hervorgrinst. Dem lässt Lake natürlich keinen Raum. Am Schluss bleibt ein Tänzer ganz alleine zurück und übt sich halb akrobatisch, halb im Hip-Hop angesiedelt in seinem ganz eigenen Bewegungsvokabular.

In den Staub: Akram Khans „Vertical Road“

Auch Akram Khans „Vertical Road“ endet mit dem einzelnen Tänzer, hier aber nicht unbedingt in einer optimistischen Variante, sondern eben dem Zusammenbruch. Khan hat als Choreograf mit seinem bildstarken Tanzstil, der Momente des indischen Kathak mit Strategien des zeitgenössischen westlichen Tanzes kreuzt, eine veritable Weltkarriere hingelegt.

Jon Vallejo und Sarika Emi in „Vertical Road“ aus dem Doppelabend „Wings and Feathers“ von Stephanie Lake und Akram Khan an der Semperoper Dresden.

Jon Vallejo und Sarika Emi in „Vertical Road“ von Akram Khan. Foto: Admill Kuyler

„Vertical Road“ startet mit einer dicken Staubschicht. Jón Vallejo trifft auf Sarika Emi, Stipendiatin der Stiftung Semperoper, die sich wie eine Statue oder steinerne Puppe hin und her wiegen lässt, wobei bei jeder Bewegung eine dicke Staubwolke von ihr fällt. Schon das ist ergreifend. Von hinten nähern sich derweil ihre Staubkolleg:innen in wallenden Kostümen, die sie vor den Händen des übergriffigen Reisenden schützen wollen, so zumindest eine (postkoloniale) Lesart des Abends.

In der Folge findet unter den peitschenden Bässen der Musik von Nitin Sawhney und Aditya Prakash ein emotionales Katz-und-Maus-Spiel statt.

Sarika Emi in „Vertical Road“ aus dem Doppelabend „Wings and Feathers“ von Stephanie Lake und Akram Khan an der Semperoper Dresden.

Sarika Emi in „Vertical Road“. Foto: Admill Kuyler

Immer wieder wird Vallejo, im Programmheft als Reisender tituliert, von dem Kollektiv zurückgewiesen, selbst seine Versuche sich bei den Graugewandeten durch Imitation der Tanzschritte zu assimilieren, scheitern. Grob weisen sie ihn ab, allerdings reagiert auch die Statue Emi nicht auf seine offensichtlichen Avancen und gliedert sich bereitwillig in ihr Kollektiv ein. Ein hochemotionaler Bilderrausch, der zeigt, dass Khan hier in Dresden auf fruchtbaren Boden fällt, auch beim Publikum. Das gilt für beide Stücke.