Foto: Davíd Felipe Gavíria Malagón, Kristina-Maria Peters, Sasha Weis, Doris Dubiel, Peter Schäfer © Ludwig Olah
Text:Manfred Jahnke, am 6. Oktober 2025
In „74 Minuten“ verwebt Raphaela Bardutzky Geschichten verschiedener Menschen. Hannah Frauenrath zeigt in der Uraufführung am Staatstheater Nürnberg eindrückliche psychologische Miniaturen.
Wussten Sie das? 74 Minuten dauert die längste Einspielung der 9. Sinfonie von Beethoven, 1951 von Wilhelm Furtwängler in Bayreuth aufgenommen. Wussten Sie, dass sich ein Vater im Durchschnitt 74 Minuten am Tag um die Kinder kümmert, während eine Mutter 144 Minuten für ihre Kinder aufbringen muss? Mit solchen Zahlen – und noch mehr – wartet Raphaela Bardutzky in „74 Minuten“ auf. Hinter diesen Zahlen verbergen sich Geschichten. Zum Beispiel von der alten Frau, Calanda, die vorm Fernseher sitzt und sich einen Langlaufwettbewerb anschaut und dabei aus Versehen auf den roten Notknopf drückt – und einen Sanitäter- und Feuerwehreinsatz auslöst. Calanda wird von Doris Dubiel in ihrer Hilflosigkeit groß ausgespielt.
Bardutzky verwebt in 74 Minuten Geschichten von verschiedenen Menschen miteinander, die einerseits sich nur manchmal berühren und zum anderen lange Vorgeschichten – ganz außerhalb des gesetzten Zeitraums – haben. Nicht nur die alte Dame, die selbst einmal Langläuferin war, zählt dazu, sondern auch Wilhelm Furtwängler, der für die Freiheit der Kunst plädiert und doch 1942 vor Hitler die Neunte dirigiert. Oder Beethoven selbst, der sich weigerte, für seinen Mäzen zu spielen, weil ihm die Freiheit – „Alle Menschen werden Brüder“ – am Herzen liegt und er nicht vor Despoten auftreten will.
Auf dieser Handlungsebene greift Bardutzky tief ins Historische. Und sie greift dabei zentral – wie in der Auseinandersetzung von Toscanini, der Furtwängler wegen seiner Mittäterschaft angreift – die Frage nach der Unabhängigkeit der Kunst von der Politik auf.
Wirksame Miniaturen
Wirksamer erscheinen dabei die kleinen miniaturhaften Dramen, die sich in der Gegenwart abspielen: Die Anstrengungen des zwielichtigen Anwalts (Stephan Schäfer treibt seine Rolle ins Aasige) seinen Zug zu erreichen und der dabei auf die Anwältin trifft, deren Mann Opernsänger ist. Er muss dringend zur Probe der 9. Sinfonie, aber die Kinder müssen beaufsichtigt werden. Und der ICE, mit der die Frau pünktlich zu Hause sein möchte, hat von Minute zu Minute mehr Verspätung.
Kein Wunder, dass da ein kenntnisreiches Publikum vor Vergnügen prustet. Im Gelächter geht unter, dass hier eine Ehe zerrüttet ist. Daneben gibt es noch die Geschichte der beiden Sanitäter (Davíd Felipe Gavíria Malagón und Stephan Schäfer), die bei der alten Dame auftauchen, aber selbst in eine Beziehungsgeschichte verwickelt sind.
Großes Ensemble-Engagement
Bei der Uraufführungsinszenierung von Hannah Frauenrath am Staatstheater Nürnberg kommen die Spieler:innen zu Beginn langsam auf die Bühne. Sie deuten an, dass sie Streichinstrumente spielen, dirigiert mit Verve von Kristina-Maria Peters. Jeremy Heiß als Musikarrangeur hat sich nicht nur bei Beethoven bedient, sondern auch bei Hindemith oder Céline Dion.
Das Ensemble tritt in den Einheitskostümen von Ji Hyung Nam auf: Türkise Topps, die die rechte und zwei Mal die linke Schulter frei lassen, und langen dunklen Hosen. Der Bühnenraum – ebenfalls von Ji Hyung Nam – ist einfach gehalten: Im Hintergrund ist eine schräg liegende, leicht zerfließende Taschenuhr auf eine Kullissenwand gemalt. Rechts und links stehen zwei Treppenpodeste, in der Mitte eine kleine Säule aus drei übereinandergeschichteten goldenen Ringen. Wenn es um die Geschichte der Langläuferin geht, rieselt Schnee.
Natürlich tickt eine Stoppuhr im Hintergrund, die (nicht immer) die reale Zeit anzeigt. Selbstverständlich wird auch die Zeit um 18,35 Minuten überzogen. Das Ensemble steigt mit großem Engagement in die Geschichten ein. Wie Doris Dubiel, David Felipe Gavira Malagón, Kristina-Maria Peters, Stephan Schäfer und Sasha Weis in ihre Rollen ein- und aussteigen, hat eine starke Präsenz. Es macht Spaß, Ihnen zuzusehen. Sie lassen vergessen, dass alles, was in 74 Minuten sich ereignen könnte, nur angetippt erscheint. Dafür gibt es vom Ensemble eindrückliche psychologische Miniaturen zu sehen.