Foto: Trigal Sandberger Cañas und Marius Petrenz © Sofia Schomko
Text:Manfred Jahnke, am 29. September 2025
Sergej Gößners Stück „Ich sehe was / was Du nicht siehst“ erzählt von sexueller Gewalt und legt den Fokus auf das Schweigen der Umgebung. Julius Max Ferstl inszeniert das Erinnerungspuzzle mit kluger Musikalität und reduziertem Setting. Die Leichtigkeit der Darstellung überzeugt und öffnet den Zugang zu einem schwierigen Thema.
Autor Sergej Gößner greift schwierige Themen mit großer Leichtigkeit auf. Vor dem Schreiben recherchiert er lange, um nah an der Wirklichkeit zu bleiben. In „Ich sehe was / was Du nicht siehst“ setzt er sich im Auftrag des Theaters Aalen mit sexueller Gewalt – nicht nur gegen junge Männer – auseinander. Der Fokus liegt weniger auf Täter und Opfer als auf deren Umfeld und dessen Reaktionen. Es geht ihm nicht darum, Betroffenheit zu erzeugen, sondern Aufmerksamkeit zu wecken, nicht nur beim jungen Publikum. Dieses wird abgeholt – und das gelingt mit bemerkenswerter Leichtigkeit.
Zwischen Nähe und Übergriff
Dramaturgisch lässt er zwei Ich-Erzähler:innen – A und B – agieren, die alle anderen Rollen mitspielen. Zu Beginn wird die Gemeinsamkeit mit dem Publikum betont im Stil von „Das kennt Ihr doch auch“. Das schafft eine lockere Atmosphäre, zumal der raffiniert einfache Plot die Lebenswirklichkeit von jungen Menschen widerspiegelt. Das Ich hat schon als Kind Schwierigkeiten mit körperlichen Berührungen gehabt, wollte sich von seiner Mutter nicht auf den Arm nehmen lassen.

Trigal Sandberger Cañas und Marius Petrenz in „Ich sehe was / was Du nicht siehst“. Foto: Sofia Schomko
Als Heranwachsender wird er von Hannah auf ihre Party eingeladen. Beim Flaschenspiel soll er Lea küssen, was er mit Widerwillen schließlich macht. Das Mädchen geht noch einen Schritt weiter, sie zerrt ihn, als sie allein sind, auf ein Bett, will Sex. Der Ich-Erzähler beharrt auf ein klares Nein, aber Lea akzeptiert es nicht. Nach einem Moment der Starre kann er gehen. Aber niemand glaubt ihm, dass er keinen Sex hatte.
Gößner legt „Ich sehe was / was Du nicht siehst“ als Erinnerungsspiel an – das Ereignis selbst liegt schon mehr oder weniger lange zurück, beschäftigt die Ich-Erzähler:innen aber immer noch. Wie ein Puzzlespiel setzt sich langsam das Geschehen zusammen, wobei die traumatische Verarbeitung weniger in der sexuellen Nötigung selbst liegt, sondern durch das Verhalten der Umwelt bedingt wird. Hannah und sein bester Freund Ömer glauben ihm nicht, die Eltern reagieren gleichgültig. Erst Jahre später auf einer Party in einer WG, auf der er Hannah und Ömer wieder begegnet, löst sich das Puzzle und Aleks (über Tonband mit der Stimme des Autors) weist ihn darauf hin, dass er mit seiner Erfahrung nicht alleine ist und bietet ihm Hilfe an.
Leichtigkeit mit Biss
Der von Tom Schellmann geschaffene Raum wird dominiert durch ein Ständersystem mit langen Schnüren auf Rollen, so dass sich während des Spiels immer neue Räume herstellen lassen. Im Hintergrund stehen ein Bett, das Vorderteil eines Mofas und eine schwarze Katze (oder Panther?), der aber nicht angespielt wird. Etwas weiter vorne steht ein angeschnittenes Klosett, das multifunktional – u. a. auch als Lagerfeuer – benutzt wird.

Szenenfoto aus „Ich sehe was / was Du nicht siehst“ am Theater Aalen. Foto: Sofia Schomko
Mehr braucht die Regie von Julius Max Ferstl nicht, um ein komödiantisches Feuerwerk auszulösen. Seine Uraufführungsinszenierung ist musikalisch strukturiert: Von Kirchenglocken beim Einlass über „Voyage“ von Rivière Monk bei der Eingangsbewegungschoreografie bis hin zu „Solar“ von Viken Arman ist die Auswahl dramaturgisch treffend gesetzt. Seine Playlist umfasst 10 Titel. Ferstl setzt dabei stark auf choreografische Momente.
Trigal Sandberger Cañas und Marius Petrenz erspielen sich ihre Rollen mit einer großen Leichtigkeit und einer großen Präsenz. Sie nehmen als Sympathieträger ihr Publikum von vornherein mit. Und das tut gut bei diesem wichtigen Thema, nicht nur bei jungen Männern, sondern auch bei jungen Frauen: Ein Nein ist ein Nein. Das zu akzeptieren ist ein entscheidender Schritt zu einem Miteinander. Der Text wird dringend zum Nachspiel empfohlen.