Foto: © Uwe Lewandowski
Text:Jens Fischer, am 5. September 2025
Am Theater Osnabrück inszeniert Tanju Girişken den Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ von Emine Sevgi Özdamar. Von türkischen Traditionen und Deutsch lernen bis hin zum Traum der Schauspielkarriere schwankt der Abend zwischen Ironie und Ernst.
Eine Gastarbeiterin! Als temporäre Wirtschaftsmigrantin steht sie dafür, was sich viele unter Gastarbeiten vorstellten, nachdem Deutschland ab 1955 Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte mit Ländern wie Italien, Spanien und der Türkei geschlossen hat. Sevgi ist jung, gesund, belastbar und zielstrebig, geht einfach mal so ein Jahr in eine westdeutsche Fabrik, um im Akkord zu schuften und anschließend genug Geld zu haben, mit dem sie nach Istanbul zurückkehren und ihren Traum verwirklichen kann: eine Schauspielausbildung absolvieren.
Genau so kommt es – und dann doch ganz anders. Um etwas über Menschen zu erzählen, die zwischen Geburtsland und Wahlheimat pendeln, nirgendwo mehr nativ dazugehören, hat das Theater Osnabrück mit Emine Sevgi Özdamars autofiktionaler Lebensgeschichte „Die Brücke vom Goldenen Horn“ einen fast 30 Jahre alten Roman dramatisiert, der in den 1960er/70er Jahren spielt. Die historische Erzählung soll ins Hier und heute verallgemeinert werden. Und so lässt der Regiefachmann für zweisprachige Biografien, Tanju Girişken, sein Ensemble erstmal eine Umfrage im Publikum machen. Drei der rund 100 Besucher:innen bekennen sich dazu, in ihrem Alltag mehr als eine Sprache zu sprechen, neben Deutsch werden Niederländisch und Schwedisch genannt. Das Theaterpublikum repräsentiert an diesem Abend nicht die Bevölkerungsrealität in Osnabrück.
Die Figuren: Facetten und Karikaturen
Lua Mariell Barros Heckmanns, William Hauf und Sascha Maria Icks sind die spielverrückten Plaudertaschen, die den von mehr als 300 auf gerade mal 33 Seiten zusammengestrichenen Text der Ich-Erzählerin untereinander aufteilen. Dabei agieren sie überzeugend im solistischen, chorischen oder Durcheinander-Sprechen wie ein dreistimmiger Organismus, können mit lustvollem Erstaunen aber nur Facetten der Hauptfigur andeuten und typengerecht karikierend Nebenfiguren anspielen. Chronologisch werden Lebensstationen in flott getakteten Kurzszenen eher mit liebevoller Ironie denn sozialrealistischem Ernst abgehakt. Die Fließbandarbeit bei Telefunken in Berlin aber auch schon mal in eine Robotertanzgroteske übersetzt – wie in Chaplins „Moderne Zeiten“. Im Wohnheimghetto tauschen die türkischen Frauen amüsiert anthropologische Beobachtungen aus, etwa ihr Erstaunen, dass deutsche Männer sich nicht wie Türken dauernd zwischen den Beinen kratzen, aber Frauen ihre Taschen tragen, „als ob sie nicht mit diesen Frauen verheiratet waren, sondern mit diesen Taschen.“

Lua Mariell Barros Heckmanns, Sascha Maria Icks, William Hauf. Foto: Uwe Lewandowski
Gespielt wird auf einer Kopie der Zuschauertribüne (Ausstattung: Nele Schiller). Nur dass dort die Sitze mit Bekleidung, also körperlosen Menschen besetzt sind, was Sevgis Fremdheit verdeutlicht, ihr Gefühl, im deutschen Leben nicht mitspielen zu dürfen, da ihr die Sprache als Schlüssel dazu fehlt. Emsig lernt sie Deutsch anhand von Zeitungsschlagzeilen und all der Bücher, die der kommunistische Heimleiter zur linken Bewusstseinsbildung bereitstellt, versucht aber auch stetig, Wörter, Sätze, Haltungen ins Türkische zu übersetzen. Schade nur, dass auf der Bühne alle nur Deutsch sprechen und so nicht verdeutlichen können, welche Bedeutung diese Annäherung ans Deutsche als Entfernung vom Türkischen für die transkulturelle Identitätsbildung hat.
Vom naiven Teenie zum emanzipierten Denken
Die anekdotische, teilweise sketchhafte Inszenierung deutet den Stoff als Coming-of-age-Geschichte. Sevgi kommt teeniealbern nach Berlin, ist sehnsuchtsnaiv getrieben vom unmittelbaren Bedürfnis, Männer kennenzulernen, erstmal egal ob Kapitalistensöhne oder schwadronierende Revoluzzer. Ihren „Diamanten“, das Jungfernhäutchen zu verlieren, motiviert zur textilen und sprachlichen Anpassung. Integration? Assimilation? Subversion? Auf alle Fälle lösen sich Fremdheitsblockaden, es folgt Emanzipation von beharrlicher Tradition und den Phrasen der Moderne. Politisches Erwachen. Persönlicher Wandel. Befreiung des Verstandes. Ja, rein in die Studentenunruhen, raus ins Nachtleben. Harter Bruch.
Die Osnabrücker Sängerin Seda Devran betritt die Bühne und erzählt, dass sich ihre Mutter im Deutschen wohler fühlt, ihr Vater aber will, dass Zuhause Türkisch gesprochen wird. Dervan interpretiert ihre daraus resultierende Zweisprachigkeit als Bereicherung und singt ein Lied. Es folgen ein paar Szenen von Sevgis Rückkehr, wie sie ihr Berlin-Ich in der linken Intellektuellenszene Istanbuls auslebt – bis zum Militärputsch 1971. Damals wie jetzt erweist sich die Türkei nicht als aufgeklärter Rechtsstaat. Symbolisch fallen Soldatenstiefel vom Himmel und werden angeekelt entsorgt. Während Kleidungsstücke wie Opfer der Folterdiktatur oder Erdoğan-Autokratie zusammengesammelt werden. Sevgis Entfremdung wächst – so habe sie ihre Muttersprache im eigenen Land verloren. Zurück nach Berlin. Als Deutsch schreibende Literatin kommt sie zu Bachmann- und Büchnerpreis-Ehren und wird als Schauspielerin bekannt. Ist nun dazwischen und mittendrin. Ein Wohlfühlabend für alle, die Widersprüche nicht denunzieren, sondern in der Synthese einer deutsch-türkischen Identität zu etwas Neuem auflösen wollen.