Foto: Die Drehscheibe zwischen Erde und Mars © Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon
Text:Erik Zielke, am 9. Juli 2025
Zwischen der unwirtlichen Erde und dem schroffen Mars entspinnt sich beim Festival d’Avignon Tiago Rodrigues’ „La Distance“ – ein bewegendes Kammerspiel über einen Vater, der über Lichtjahre hinweg um den Kontakt zu seiner Tochter ringt. Feinfühlig erzählt und eindrucksvoll gespielt, entfaltet sich ein Drama mit großen Fragen und leisen Momente.
Es ist das Jahr 2077. Wenig einladend ist das Leben auf der Erde. Die Klimakatastrophe, deren zerstörerische Kraft wir schon heute erleben können, zeitigt immer verheerendere Folgen. Stromausfälle gehören zum Alltag. Politische Auseinandersetzungen entsprechen mittlerweile einem Kampf ums Überleben. Und die Alternative? Auch das Leben auf dem eiskalten Mars ist wenig einladend. Es ist eher die Fantasie von diesem anderen Leben in weiter Ferne, von einem Neuanfang, der auf den einen oder die andere verführerisch wirken mag.
So ist es jedenfalls in dem Stück „La Distance“ von Tiago Rodrigues beim diesjährigen Festival d’Avignon in der intimen und außerhalb der Stadt – in Vedène – gelegenen Spielstätte L’Autre Scène angelegt. Rodrigues, der seit 2023 das Festivalprogramm als künstlerischer Leiter verantwortet, ist ein beeindruckendes Kammerspiel geglückt und der Regisseur und Autor hat sich selbst einmal mehr als überaus geschickter Erzähler von Bühnengeschichten präsentiert.
Zwei Welten, ein Abschied
Ali (Adama Diop) ist ein Arzt, zurückgelassen auf einer unwirtlich gewordenen Erde, die auf der Bühne durch zwei umgestürzte, trockene Bäume versinnbildlicht wird (Bühne: Fernando Ribeiro). Amina (Alison Dechamps) ist der Name seiner Tochter, die in Richtung des roten Planeten aufgebrochen ist, der uns als schroffe Felsenlandschaft präsentiert wird. Zwischen diesen beiden Welten bewegt sich die Drehbühne hin und her.

Szenenfoto aus „La Distance“. Foto: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon
Erst allmählich begreifen wir, dass die titelgebende Distanz nicht nur eine räumliche Beschreibung ist. Vater und Kind kommunizieren über Sprachnachrichten – stellt sich dabei so etwas wie Nähe ein, oder wird ihre Entfernung nur umso deutlicher? Aminas Weggang bedeutet einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit – es ist ein Abschied für immer. Junge, gesunde, fruchtbare Menschen werden eingeladen, ein neues Leben auf dem Mars zu beginnen. Der Preis ist ihre Geschichte. In einem Jahr, das wir im Zeitraffer auf der Bühne verfolgen, wird ihre persönliche Erinnerung ausgelöscht. Es soll Schluss gemacht werden mit einer Vergangenheit, die bereits einen Planeten an den Abgrund geführt hat.
Ali kämpft um seine Tochter, will sie zurückholen, sie überzeugen. Sie zweifelt und bleibt doch standhaft. Das tragische Ende ist unabwendbar. Dass es sich bei diesem Stück nicht nur um ein kaltes Gedankenspiel handelt, sondern auch um ein Drama mit Tiefgang, ist vor allem dem Text und den beiden Spielern zu verdanken. Die großen Gefühle scheut Rodrigues offenbar nicht, und so gerät „La Distance“ geradezu anrührend – und damit für ein deutsches Publikum zu etwas Außergewöhnlichem.
Fragen nach Verantwortung
Hinter der tragischen Vater-Tochter-Geschichte verbergen sich aber auch die schwerwiegenden politischen Fragen: Welche Verantwortung trägt der Einzelne für die Vergangenheit und Zukunft? Wer handelt ethisch gut: der Arzt, der die kaputte Welt heilen will; die Wissenschaftlerin, die alles hinter sich lässt auf der Suche nach dem Fortschritt? Und ist dieser Fortschritt überhaupt möglich, wenn man die Vergangenheit auszulöschen versucht?
Neunzig Minuten braucht Tiago Rodrigues, um diese großen Themen in den Raum zu stellen. Geschickt lässt er das Drama Einzug halten in die doch recht undramatische Kommunikationsform der Sprachnachricht. Und er ist klug genug, die aufgeworfenen Fragen nicht leichtfertig zu beantworten, sondern sie dem Publikum mit auf den Weg zu geben.