Foto: Hybridoperette „Hotel Savoy“: Die Hotelbewohner:innen bei Jubel, Trubel und Heiterkeit im Hotel Savoy. © T+T Fotografie/Toni Suter
Text:Martina Jacobi, am 15. August 2024
Gemeinsam mit der Tiroler Band Musicbanda Franui spielen die Staatsoper und das Schauspiel Stuttgart die Hybridoperette „Hotel Savoy“ auf der Grundlage von Joseph Roths gleichnamigem Roman. Redakteurin Martina Jacobi und Hendrikje Mautner-Obst, Professorin für Kulturvermittlung, sprechen über Konzept und Inszenierung.
DIE DEUTSCHE BÜHNE In Joseph Roths Zwischenkriegsroman „Hotel Savoy“ ist das Hotel Anlaufpunkt für Kriegsheimkehrer, für Revolutionäre, für Künstler:innen wie die Varietésängerin Stasia, den Clown Santschin, den Souffleur Abel Glanz, den Magnetiseur Zlotogor oder auch für den Lotterieträumer Hirsch Fisch. Als Kooperation haben das Schauspiel und die Staatsoper Stuttgart mit der Musicbanda Franui den Romanstoff als Grundlage für die Hybridoperette „Hotel Savoy“ genommen. „Und jetzt kommt der Höhepunkt des Abends“, kündigt der musikalische Leiter und Trompeter der Musicbanda, Andreas Schett, gleich zu Beginn und dann immer wieder zum täglichen 5-Uhr-Tee im Hotel ihre Rekompositionen von Operettennummern an. Das Publikum hört Melodien von Emmerich Kálmán, Franz Lehár, Leo Fall, Bruno Granichstaedten, Oscar Straus, Hilda Löwi oder Paul Abraham – alles Komponist:innen der sogenannten „Silbernen Operettenära“, die durch die Nationalsozialisten von den Spielplänen entfernt wurden und/oder durch sie ums Leben kamen. Diese Komponist:innen sind wie Kálmán irgendwann aber vielleicht auch Heimkehrer gewesen oder Weiterreisende. Wie hat die Hotelmetapher auf Sie gewirkt?
Hendrikje Mautner-Obst Die Hotelmetapher hatte ich für mich gar nicht auf die Biografien der Komponist:innen oder Librettist:innen bezogen. Im Stück ist das Hotel ein Ort, an dem die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen, mehr oder weniger zufällig in einem geschlossenen Raum. Sie alle sind auf eine Weise dort gestrandet und finden für eine begrenzte Zeit zusammen. Manche wollen weiterziehen, andere kommen immer wieder zurück, und wieder andere scheinen sich dort vorübergehend oder dauerhaft eingerichtet zu haben. Sie alle warten, und sie hoffen, denn ihre Welt ist „schief“. Das zeigt die Bühne mit der schrägen Scheibe sehr schön: Etwas ist gekippt, man kann ins Rutschen geraten. Insofern zeigt das Hotel wie in einem Brennglas eine Welt, die aus dem Lot geraten ist, in der man nicht bleiben möchte, von der aus man weiterziehen wird oder die man nicht recht wiedererkennt, wenn man zurückkommt. Das könnte man auch auf die Biografien der Komponist:innen beziehen.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Das Hotel steht für eine Zuflucht am Tor zu Europa in einer Welt, die auseinanderbröckelt. Die Geschichten der Figuren darin sind tragisch, was Roth in seinem Original genau skizziert hat, an dem sich Corinna von Rads Inszenierung textlich eng entlanghangelt. Da gibt es viele Feinheiten wie den Liftboy Ignatz (Boris Burgstaller), der auch als Fährmann gelesen werden kann, als Tod, und der sich später als Besitzer des Hotels herausstellt – darstellerisch fehlt es den Figuren in Stuttgart aber an Charakterschärfe. Wer sind sie, und was treibt sie um? Die Inszenierung steht vor dem ständigen Balanceakt zwischen Tragik und Unterhaltung im Varieté, wofür sich die Operette als Kunstform wunderbar eignet! Unerfüllte Wünsche und Träume werden dort mit feiner oder saftiger Ironie interpretiert, und gleichzeitig kann da auch viel Lebenswahrheit und -weisheit drinstecken.
Hendrikje Mautner-Obst Die Idee, Operetten-Highlights zur Projektionsfläche für die Träume und Wünsche von Verlorenen, Entwurzelten und Suchenden zu machen, passt gut. Ich habe es allerdings so ähnlich wahrgenommen wie Sie, dass manche Nuancen der Figuren in der Inszenierung nicht so deutlich werden. Die Ironie, mit der Roth seine Figuren zeichnet, und auch die Traurigkeit, Aussichtslosigkeit und Leere der Figuren geraten durch Überdrehtheit und Klamauk stellenweise ein wenig in den Hintergrund. Die Operettennummern sind auch durch die Platzierung der Musicbanda Franui am vorderen Bühnenrand allein von der Lautstärke so präsent, dass sie sich in den Vordergrund drängen. In einzelnen Szenen ist die Musik Teil des Geschehens, beispielsweise wenn die Banda zum 5-Uhr-Tee aufspielt oder wenn sie szenisch agiert und den Trauermarsch zum Tod des Clowns Santschin spielt. Hier passt sie sich besser in das Geschehen ein als an anderen Stellen, an denen die Handlung nur ein Stichwort für die nächste Nummer zu liefern scheint. Das Stück wirkt dann weniger wie ein „Hybrid“ als wie Text mit Musiknummern.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Dabei ist die Interpretation der Musik von der Musicbanda Franui und den Sänger:innen der Stuttgarter Oper sowie den Darsteller:innen des Stuttgarter Schauspiels sehr berührend und auf hohem musikalischen Niveau. Die Rekompositionen in der Besetzung mit Kontrabass, Akkordeon, Tuba, Hackbrett, Geige, (Bass-)Klarinette, Saxofon, Harfe und Posaune sind toll. Ich hatte das Gefühl, dass auch die etwas dunkleren Seiten der Operettentexte da in den Vordergrund gerückt wurden. Wenn Josefin Feiler als Stasia zuerst den Einsatz zu „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ verpasst, gar nicht als die selbstbewusste Diva auf die Bühne tritt, sondern stolpernd und zerzaust erscheint und dann schief einsetzt, sich erst mal sammeln muss. „Ich weiß es selber nicht, warum man gleich von Liebe spricht“ – dieser Satz ergibt bei ihrer Figur, die zwischen dem oberflächlichen Alexander Böhlaug mit Geld und dem liebevollen, aber distanzierten Gabriel Dan hin- und hergerissen ist, viel Sinn.
Hendrikje Mautner-Obst Josefin Feiler als Stasia fand ich auch besonders überzeugend, sehr fein und auch witzig. Insgesamt war ich an dem Abend fasziniert davon, wie wandelbar sich die Sänger:innen und Schauspieler:innen, die ja alle zwei oder drei Rollen zu verkörpern hatten, auf der Bühne präsentiert haben. Josephine Köhler beispielsweise, die als laut schimpfender und etwas protziger Phöbus Böhlaug, als Revolutionärin Natascha und als überdrehte Variétéangestellte Jetti Kupfer mit großer Spiel- und Singfreude ihre Figuren lebendig werden ließ und ihnen ein Profil gab.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Oder auch Moritz Kallenberg als Alexander Böhlaug oder besoffener Militärarzt. Was die Figuren alle verbindet, ist – wie Sie schon angedeutet haben – die Frage, wie mehr oder weniger zufällig sie alle im Hotel gestrandet sind. Warum und wie einen Menschen dieses und nicht ein anderes Schicksal ereilt. Bei den von den Nationalsozialisten vertriebenen Komponist:innen und Librettist:innen ist es gerade spannend, zur Hotelmetapher zurückzukommen, zur Frage um ein Zuhause. Aber auch bei der Frage um Machtverteilung, auch die thematisiert Roth in seinem Buch: Unten im Hotel wohnen die Reichen, deren Uhren langsamer laufen, und oben die Ärmeren, die Künstler:innen und die auf schieferen Bahnen. Das alles liegt irgendwo in der Luft, ist aus dem Text herauszuhören, wird aber durch die Inszenierung nicht sehr stark verfeinert.
Hendrikje Mautner-Obst Im Bühnenraum wird das ein wenig sichtbar (Bühne: Ralf Käselau). Die Stockwerke sind angedeutet in mehreren sich nach oben verjüngenden Ringen in der Decke, die man als pompösen Kronleuchter einer mondänen Hotellobby betrachten kann, oder als Andeutung der oberen Stockwerke. Und natürlich ordnen sich die Figuren selbst ein im Stockwerkgefüge, das auch ein soziales Gefüge darstellt. Es schwingt auf jeden Fall das Thema soziale Ungleichheit mit: Wer gehört dazu, wer nicht? Wer befindet sich im Zentrum, wer an der Peripherie? Es ist ein Thema, das für Suchende, Vertriebene und auch schon Angekommene eine existenzielle Bedeutung hat. Und ändert sich etwas in dem Gefüge, wenn der lang erwartete Bloomfield kommt?
DIE DEUTSCHE BÜHNE Das Ankommen des Milliardärs in der Stadt ist das, worauf alle hinfiebern. Dabei kommt er nicht für Geschäftliches, sondern besucht das Grab seines Vaters. Er sagt: „Meine Reise ist eine Heimkehr. […] die Stadt kann ich nicht vergessen. Ich bin ein Ostjude, und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben“ – aber das Hotel selbst kann kein Zuhause sein, und am Ende brennt es.
Hendrikje Mautner-Obst Und es bleibt offen, wie es für die Einzelnen weitergeht. Alle haben sich von der Ankunft Bloomfields etwas Positives erhofft, eine Wendung zum Besseren. Stattdessen geht der Ort, an dem sich für eine kurze Zeit die Einzelschicksale kreuzen, in Flammen auf. Und alle werden weiterziehen müssen.
Hendrikje Mautner-Obst studierte Schulmusik, Germanistik und Musikwissenschaft und promovierte in Musikwissenschaft. Sie war als Dramaturgin und Pressereferentin am Nationaltheater Mannheim sowie als Dramaturgin an der Oper Frankfurt tätig. Seit 2012 ist sie Professorin für Kulturvermittlung an der HMDK Stuttgart.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 4/2024.