
Salzburger Festspiele: Nur Schönheit kann uns retten?
Foto: Salzburger Festspiele 2024: „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg mit Aušrinė Stundytė als Nastassja Baraschkowa. © Bernd Uhlig Text:Regine Müller, am 15. September 2024
Die Salzburger Festspiele experimentieren mit einem Schwerpunkt russischer Opern des 20. Jahrhunderts. Überragend gelingt dabei Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Weinbergs „Der Idiot“. Im Schauspiel gibt es dagegen keine vergleichbaren Höhepunkte.
Die ganz große Bühne gehört in diesem Jahr den Russen: Die Felsenreitschule mit ihrer vierzig Meter breiten Steinarkadenbühne bietet den grandiosen Rahmen für zwei Raritäten, die den bewusst schwer verdaulichen Schwerpunkt des Opernprogramms bilden. Intendant Markus Hinterhäuser beharrt mit Mieczysław Weinbergs nahezu unbekannter Oper „Der Idiot“ und Sergej Prokofjews Frühwerk „Der Spieler“ stoisch auf seiner Linie, russische Kultur nicht auszugrenzen, sondern zur Diskussion zu stellen.
Höhepunkt: „Der Idiot“
Unbeirrt hält Hinterhäuser auch an seinen Lieblingsregisseuren fest, die in diesem Jahr für die Raritäten zuständig sind: Peter Sellars für „Der Spieler“ und Krzysztof Warlikowski für „Der Idiot“. Man kann das einfallslos nennen, aber zumindest im Falle Warlikowskis ist das Ergebnis eine Sensation, denn Mieczysław Weinbergs letzte Oper wird zum Überraschungserfolg des Festspieljahrgangs. Die posthum 2013 uraufgeführte Oper entstand 1986/87, der polnisch-russische Komponist jüdischer Herkunft gehörte lange zu den großen Unbekannten des 20. Jahrhunderts.
Małgorzata Szczęśniak hat die Steinwände der Felsenreitschule mit nussbraunen Holzpaneelen verkleidet, die auch als Video-Projektionsflächen dienen, außerdem gibt es einen fahrbaren Raum und eine rote Sitzgruppe, die zu Beginn ein Zugabteil vorstellt.
Darin sitzt der Titelheld, Fürst Myschkin, auf dem Weg zurück von einem Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nach St. Petersburg. In Russland angekommen, merkt Myschkin, der als eine Art Gottesnarr geschildert wird, dass ihm Russland fremd geworden ist. Dennoch mischt er sich in die von Neid, Geldgier und Nihilismus zerfressene Petersburger Gesellschaft.
Beständig wiederholt er seine Glaubenssätze: „Mitgefühl ist das einzige Gesetz des Menschseins“ und „Schönheit rettet die Welt“. Warlikowski macht ihn gar zum Wiedergänger Christi, wenn er eine Parallele herstellt zu Holbeins schockierend realistischem Bild „Der tote Christus im Grab“ und Myschkin fast nackt in der gleichen Pose unter das Bild bettet.
Warlikowskis analytisch ansetzende Regiepranke verzettelt sich diesmal nicht in übercodierten Rätselbildern, sondern findet für jede Figur einen subtil ausbalancierten Ausdruck, sodass packende Konstellationen entstehen, an deren psychologischer Tiefenschärfe man sich kaum sattsehen kann, fast vier Stunden herrscht atemlose Spannung auf der Bühne.
Auch deshalb, weil im Graben Mirga Gražinytė-Tyla die Zügel fest in der Hand hält und Weinbergs hochkomplexe Partitur sensibel auslotet und ihren extremen Härten keineswegs ausweicht. Das stilprägend besetzte Ensemble wird überstrahlt vom Myschkin des Bogdan Volkov. Der an Mozart geschulte Tenor ist eine Spur zu schlank für Weinbergs riesigen Orchesterapparat, aber gerade die lyrische Zartheit und seine darstellerische Intensität ergeben ein zutiefst berührendes Rollenporträt. Großartig der Rest des Ensembles, insgesamt eine bejubelte Pioniertat.
Ordentlicher „Spieler“ und enttäuschender „Hoffmann“
Zehn Tage später schweben über der Bühne für Prokofjews „Spieler“ seltsame schwebende Gebilde, die auf den ersten Blick wie Ufos wirken, die Steinarkaden sind nun verspiegelt, moosige Flechten überwachsen Gestein und Bühnenboden. Die Ufos fahren immer wieder blinkend herab und entpuppen sich als monströse Roulettekessel, die auf der ansonsten leeren Bühne (George Tsypin) Las-Vegas-Atmosphäre verbreiten sollen. Denn Peter Sellars verlegt die Handlung von „Der Spieler“ aus dem 19. Jahrhundert, als die Upperclass ihrer feudalen Spielneigung nachging, in eine nicht näher bestimmte Gegenwart. In heutigem Prekariatsdress bevölkern abgerockte Normalos die Bühne und tippen auf ihren Smartphones.

Sergej Prokofjews „Spieler“ mit Asmik Grigorian als Polina bei den Salzburger Festspielen 2024. Foto: Ruth Walz
„Der Spieler“ ist über weite Strecken ein Kammerspiel, das ohne Arien sich in knapper, rezitativischer Wort-für-WortVertonung dem Tempo des Sprechtheaters nähert. Das verliert sich phasenweise auf der großen Bühne, nur die große Rouletteszene, als der Chor der Wiener Staatsoper die Bühne stürmt, nimmt Fahrt auf und hat Spannung.
Im Graben weicht Timur Zangiev den explosiven Entladungen der durchlaufenden Rhythmen Prokofjews nicht aus, sondern spitzt sie zu, die Wiener sind erneut grandios, aus dem festspielwürdigen Ensemble ragen heraus Sean Panikkars intensiver Alexej, Asmik Grigorians mit glühendem Sopran gesungene Polina und Violeta Urmanas flammende Babulenka. Erneut großer Jubel.
Enttäuschend dagegen die letzte, als sicherer Erfolg erhoffte Premiere von Jacques Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“, die in Mariame Cléments Regie trotz Luxusbesetzung in Konfusion endet. Im Graben soll der Alte-Musik-Spezialist Marc Minkowski für einen durchlüfteten Offenbach-Sound sorgen, in der gefürchteten Tenor-Titelpartie ist der begehrte Benjamin Bernheim gesetzt. So hätte eigentlich nicht viel schiefgehen sollen, denn „Hoffmann“ ist ein Publikumsliebling, obwohl dramaturgisch schwer in den Griff zu kriegen. Mariame Clément glaubt, die sich ineinander verschiebenden Realitätsebenen des Werks durch eine weitere Erzählebene zu befrieden, sie verlegt die Handlung ins Setting eines Filmdrehs, Hoffmann ist bei ihr ein verkorkster Regisseur mit schwierigem Frauenbild.
Im Olympia-Akt springt er unablässig hin und her zwischen Kamera und Szene, Olympia ist hier keine Puppe, sondern eine Lady im Barbarella-Kostüm. Hoffmann ist also zugleich Regisseur und Hoffmann, der seine Olympia-Barbarella-Flamme umschwirrt. Tatsächlich wird aus der Filmset-Setzung ein szenischer Bremsklotz. Im Antonia-Akt wird das Hin und Her zum Ärgernis, um im letzten vollends im Konfusen zu verdampfen. Im Graben fremdeln Marc Minkowski und die Wiener Philharmoniker hörbar, es klappert fröhlich, die Chöre schleppen, das Ganze moussiert nicht, klingt behäbig. Benjamin Bernheims lyrisch timbrierter Tenor glänzt mit perfektem Registerausgleich, aber die Figur bleibt seltsam ungreifbar, eine bildschön singende Leerstelle. Die vier Frauen werden von einer Sängerin verkörpert, Kathryn Lewek ist den Herausforderungen der vier Stimmen in einer gewachsen, unter dem Verfremdungstrick des Settings leidet letztlich der gesamte, herausragend besetzte Cast, auch Christian Van Horns Bösewichter könnten gewiss dämonischer klingen, würden sie nicht so ans Lächerliche verheizt.
Konzertantes und Übernahmen
Begonnen hat die Salzburger Opernsaison betont defensiv mit Richard Strauss’ letzter Oper „Capriccio“ in konzertanter Aufführung, ein Leckerbissen für Spezialisten in musikalischer Topbesetzung: Christian Thielemann am Pult der Wiener versieht sein Amt mit souveräner, manchmal allzu strenger Kontrolle, der handverlesene Cast mit der glockenklaren, aber als Typ zu jugendlichen Elsa Dreisig als abgeklärte Gräfin an der Spitze. Ein exquisites, etwas blutleeres Vergnügen, dem halt das Bühnenleben fehlt.
Ansonsten gibt es die übliche Übernahmepremiere von den Pfingstfestspielen mit Mozarts „La Clemenza di Tito“ in Robert Carsens Grau-in-Grau-Inszenierung inklusive gekipptem Happy End und Kapitol-Sturm à la USA, zugeschnitten wie immer auf die Pfingstchefin und Mezzo-Diva Cecilia Bartoli, sowie die Wiederaufnahme von Romeo Castelluccis umstrittener „Don Giovanni“-Produktion mit dem noch umstritteneren Teodor Currentzis am Pult.
Maue Schauspielbilanz
Im Schauspiel sieht die Bilanz dieses ersten Jahrgangs der neu installierten Schauspielchefin Marina Davydova eher mau aus: Zum Auftakt bringt der Schweizer Regisseur Thom Luz Stefan Zweigs erfolgreichstes Buch auf die Bühne, die Essaysammlung „Sternstunden der Menschheit“. Der jüdische Dichter verbrachte seine letzten Jahre vor der Fluct in Salzburg, am Kapuzinerberg unweit des Landestheaters, bevor er nach der Durchsuchung seiner Wohnung die Koffer packte. Der Regisseur erinnert gleich zu Beginn an jene Durchsuchung, die Zweig in einem Brief schilderte, indem er diesen aus dem Off sprechen lässt.

„Sternstunden der Menschheit“ von Thom Luz in Szene gesetzt bei den Salzburger Festspielen 2024. Foto: Sandra Then
Die Stimmen des sechsköpfigen Ensembles überlagern sich, immer wieder tönt es auch aus den Lautsprechern, Textfetzen aus den „Sternstunden“, verschränkt mit Briefen Zweigs aus dem brasilianischen Exil. In den stärksten Momenten gewinnt das Biografische die Oberhand anhand von Zweigs Aufzeichnungen. Denn mit der Zeit wirkt die Collagetechnik ermüdend, weil sie schnell auserzählt ist. Trotz seiner 90 Minuten Dauer zieht sich der Abend.
Am Tag nach der intensiven Weinberg-Premiere wirkt auf der Perner-Insel Nicolas Stemanns Antiken-Projekt „Orestie I–IV“ wie ein kalter Wasserguss. Wenn man die ehemalige Saline betritt, sind schon alle da. Dann kommt ein Mann auf die Bühne, Typ Motivationstrainer, und begrüßt betont lässig das Publikum. Der Mann ist Nicolas Stemann, Regisseur des Abends und Überschreiber der antiken Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus denen er einen handlichen Vierteiler gemacht hat.
Die große Barbara Nüsse tritt auf: „Ich kann nicht mehr! Zu lange muss ich schon hier warten“, ruft sie mit knorriger Stimme in den Saal. Es sind Worte des Wärters, Nüsse spielt wie ihre weiteren vier famosen Kolleginnen und Kollegen viele Rollen, außerdem spricht sie, wenn der Chor gefordert ist. Kostümbildnerin Sophie Reble hat Toga-ähnliche Gewänder geschneidert, später kommt längst übergesehener Trash-Schick auf die Bühne: sexy hohe Hacken für Patrycia Ziolkowska und für alle Pailletten, Flitterkram und alberne Perücken. Der Abend kommt nicht in die Gänge und ermüdet schulmeisternd mehr und mehr, rutscht zuletzt ab ins Klamaukige inklusive Publikumsabstimmung.
Regine Müller findet: Salzburg im Sommer, das ist Schönheit tanken – Barockkulisse, archaische Landschaft, Gluthitze, Gewitter, Temperaturstürze, kurze Wege, Lieblingskolleg*innen, Tratsch, lange im Resch & Lieblich sitzen, von Glockengeläut wach werden, „Frühstück salzig“ im Café Bazar.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 5/2024.