Porträt von trans Musicaldarstellerin AMY

„Ich bin die einzige“

AMY gehört zu den ersten trans Musicaldarsteller:innen im deutschsprachigen Raum und kämpft um Gleichstellung an deutschen Theatern. Eine Begegnung in Hof.

Frühlingsanfang im Theater Hof. Aus dem zu zwei Dritteln gefüllten Saal brandet der Applaus am Ende so lautstark wie aus einem ausverkauften Haus. Es war die sechste Vorstellung von „Hedwig and The Angry Inch“. Die Titelfigur des Drag-Rock-Musicals ist auch ein Opfer der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, welche der Handlung ein brisantes Zeitkolorit geben sollte. Hedwig wurde ausgebootet von einem Lebensabschnittsgefährten, der sich kaltschnäuzig als weitaus erfolgreichere Pop-Größe aus Hedwigs geistigem Eigentum bereichert. In einer entgleisenden Show packt Hedwig mit beeindruckender Offenheit ihr krudes Privatleben aus – inklusive Geschlechtsangleichung. Sie bleibt mutig, selbstbewusst und trotz aller Blessuren unerschrocken.

„Ich bin die Einzige“, sagt auch die Hedwig-Darstellerin AMY. Die Hofer Erstaufführung, bei der sie nach jeder Vorstellung den Löwenanteil des enthusiastischen Applauses erhält, ist nach einer Tournee-Inszenierung von Jens Daryousch Ravari bereits ihre zweite Produktion des Kultmusicals. Auch AMY orientierte sich nach den physischen Veränderungen ihrer Transition neu, allerdings mit weitaus mehr Erfolg und Realitätsbewusstsein als die von ihr verkörperte Hedwig. Nach Beginn der Transition begann AMYs zweite Karriere als ihre Identität lebende Schauspielerin und Sängerin. „Es gibt bestimmt trans Frauen unter den Kolleginnen, aber die zeigen ihre geschlechtliche Identität nicht offen.“ Die Gründe für dieses Schweigen liegen in einem System, das heteronormative Diktate von Struktur und Inhalten nur äußerst langsam überwindet.

Szenenbild aus „Hedwig and The Angry Inch“ am Theater Hof
„Hedwig and The Angry Inch“ am Theater Hof. Foto: Harald Dietz

Wir treffen uns in einem Eiscafé in der Fußgängerzone von Hof, AMY sitzt mir aufmerksam und selbstbewusst gegenüber. Für den Beginn unseres Gesprächs hatte ich mir Fragen überlegt, welche eher die künstlerischen als die sozialen Herausforderungen einer trans Frau reflektieren – also den durch die Transition bedingten Fachwechsel und die Kontinuität eines bestimmten Rollenspektrums innerhalb der erforderlichen Neuorientierung. Dann steuern wir immer wieder auf professionelle und menschliche Herausforderungen an AMY zu, welche binären Personen mit dieser Intensität und Drastik unbekannt sind. „Ich nehme es nicht übel, wenn eine Person auf Proben, im Publikum, in der Öffentlichkeit oder im privaten Rahmen aus Unkenntnis eine verletzende Formulierung gebraucht. Nur sollte dies nicht zum Status quo werden,“ sagt AMY. „Missverständnisse darüber können wir im Theaterumfeld meistens komplikations- und schmerzfrei regeln.“

Tradierte Fachkategorien

Verletzungen liegen oft am System, das tradierte Anschauungen betoniert. Theaterleitungen haben aus Angst vor Besucherschwund zu selten Mut zum ganzen Spektrum der Besetzungsmöglichkeiten. Dabei geht es um weitaus mehr als den mit männlichen Counterstimmen angeschobenen Besetzungspluralismus. AMY kämpft darum, als trans Frau für das „klassische“ Frauenrepertoire ernst genommen zu werden. Es ist bezeichnend für ihr gegenwärtiges Image: Einen Schwerpunkt ihrer Auftritte bilden Rollen wie Frank N. Furter in „The Rocky Horror Show“ und Conférencier in „Cabaret“. Beide Figuren haben einen „androgynen“ Touch und gehörten schon vor der Transition zu AMYs Repertoire. Auch Auftritte in der Wiederaufnahme von „The Producers“ an der Musikalischen Komödie Leipzig in der Rolle des Leo Bloom sind geplant, den AMY bereits vor ihrer Transition verkörperte.

Von 2017 bis 2022 konnte sie sich am Erzgebirgischen Theater Annaberg-Buchholz und bei den Festspielen Greifenstein unter den Intendanten Ingolf Huhn und Moritz Gogg wesentliche Rollen aneignen. Darauf folgte ihre von den Eltern und nahen Angehörigen mit viel Liebe begleitete Transition. Als trans Frau gelten für AMY offenkundig nicht die für Cis-Frauen und Cis-Männer angewandten Fachkategorien, welche meistens über das physische Alter, die performative Ausstrahlung und das künstlerische Potenzial definiert werden. AMY ist bisher aus Perspektive von Produktionsteams und Theaterleitungen keine erste Wahl für Frauenfiguren in heterosexuellen Konstellationen, zum Beispiel die im Kit Kat Klub auftretende Sally Bowles.

„In den gegenwärtigen Theater- und Marketingstrukturen brauche ich nicht daran zu denken, solche Rollen jemals zu spielen“, sagt AMY. Da klingt ein leicht verbitterter Unterton durch. Die Hürde wäre niedrig: Die originale Stimmlage der Frauenpartien müsste leicht nach unten transponiert werden. Solche Veränderungen werden durch die Rechteinhaber von Musicals allerdings häufig abgelehnt. Zudem gibt es beim Musical noch mehr als beim Schauspiel weit verbreitete Vorstellungen, welcher Typ von Darstellung beim Publikum am besten ankommt. Das gilt allerdings nicht für queere Communities, auf die Besetzungen mit exzeptionellen Attributen eine große Wirkung haben.

Die künstlerische Persönlichkeit von AMY scheint für Entscheidungstragende betreffend Besetzungen und Konzepten oft nicht fassbar. AMYs Stimmumfang bewegt sich zwischen Alt, Tenor und Bariton, hat aber nicht die diesen Stimmgattungen zugeschriebene „typische“ Eindeutigkeit. „Hedwig liegt gut in meiner Stimme. Die Partie bietet viel Höhe, einiges an Tiefe und wird dadurch trotzdem eine Herausforderung“, sagt sie selbstkritisch. Karrierevorbilder mit ähnlicher Konstellation gibt es für AMY nicht, weil im deutschsprachigen Theater nach wie vor binäre und heteronormative Vorstellungen dominieren. Queere Frauen und Männer haben es leichter als AMY. Aber deren Positionierung im Theater folgt anderen Mustern von Ursache und Wirkung, da die sexuelle Prägung der Rolle und ihrer Darstellenden nicht identisch sein müssen. AMY dagegen will im Privat- UND im Berufsleben als Frau wahrgenommen werden.

Wunschpartien

Auch von Seite des Publikums sind die Unterschiede von geschlechtlichen Identitäten der Figuren und Darstellenden nicht immer klar. Im Theater gibt es noch immer zu häufig Missverständnisse zwischen Travestie, Drag-Kunstfigur und Trans-Identität. „Dabei kann ich mit meiner Persönlichkeit vieles ganz anders erzählen als über das Kostüm und Posen“, sagt AMY. „Das scheint nicht immer klar zu sein.“ AMY ist eine leidenschaftliche Darstellerin auf der Suche nach besonderen Kicks. Immer wieder nennt sie als absolute Wunschpartie Mrs. Danvers im Musical „Rebecca“. Also schon wieder eines jener schillernden „schwarzen Wesen“, wie AMY das Spektrum ihrer ambivalenten Bühnenpartien – egal ob männlich, non-binär oder fraulich nennt. AMYs Sehnsucht richtet sich auf binäre Frauenrollen – so wie Schauspielerinnen und Sängerinnen sich für ambivalente, böse und non-binäre Rollen interessieren.

Szene aus „Ein wenig Farbe“, Musikalische Komödie Leipzig

AMY in „Ein wenig Farbe“, Musikalische Komödie Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

In Birgit Simmlers Inszenierung von „Jesus Christ Superstar“ für die Luisenburg-Festspiele Wunsiedel verkörperte AMY im Sommer 2024 „HERodes“. Aus der Partie des frivolen und dekadenten Königs von Judäa modellierten die Beteiligten eine selbstbewusste Shownummer, welche die gebrochene Figur des Musicals und die geschlechtliche Identität der Darstellerin bejahte. Mit großem Rückenwind der Medien bereits vor der Premiere und einem Beifallsorkan zu jeder Vorstellung. Doch in „Seele für Seele – Freischütz Das Musical“ folgte im Festspielhaus Neuschwanstein 2025 sofort die nächste gebrochene Figur. Dort verkörpert AMY als Maestra eine Zauberin, die Unglück verbreiten will. AMY hat neben Mrs. Danvers ein weiteres „schwarzes“ Wunschprojekt: Sie möchte Shakespeares Lady Macbeth spielen, sofern sich diese Nische ergibt.

Zu den wichtigsten Produktionen AMYs gehört seit Herbst 2024 auch der Musical-Monolog „Ein wenig Farbe“ von Rory Six in der Musikalischen Komödie Leipzig. Sie spielt darin Helena, die die letzte Nacht vor ihrer operativen Geschlechtsangleichung vom Mann zur Frau erlebt – als langjähriger Vater von zwei herangewachsenen Kindern. Nach Besetzungen der Helena mit Frauen und Männern ist AMY nicht nur die erste trans Frau, sondern mit 28 Jahren auch die weitaus jüngste Darstellerin dieser Rolle. Natürlich sind der Erfolg und die positive soziale Ausstrahlung von „Ein wenig Farbe“ in Rahmenveranstaltungen ein wichtiger Etappensieg. Aber vom idealen Ziel, dass trans Frauen und Cis-Frauen gleiche Besetzungschancen haben, sind AMY und das Theatersystem noch weit entfernt.

Dieses Porträt ist erschienen im Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE NR. 2 2025 der DEUTSCHEN BÜHNE.