Menschen im Kirschbaumwald: Szene aus Fénelons Oper mit Alexey Tatarintsev (Iacha), Igor Golovatenko (Lopakhine), Marat Gali (Lionia), Thomas Bettinger (Un Invité) und Anna Krainikova (Varia).

Gelehrte Regression

Philippe Fénelon: La Cerisaie (Der Kirschgarten)

Theater:Palais Garnier, Premiere:27.01.2012Autor(in) der Vorlage:Anton TschechowRegie:Georges LavaudantMusikalische Leitung:Tito Ceccherini

Das Leben ein großer Ball – so hat sich die Gutsbesitzerin Liouba das vorgestellt, so wurde sie erzogen. Sinn für die Realitäten hat sie nie gelernt, und so fällt sie auf Lustreisen nach Paris auf einen vermeintlichen Geliebten herein, der sie betrügt, und verliert so viel von ihrem Geld, dass sie das Gut mit dem Kirschgarten, mithin ihre Heimat verkaufen muss. Ganz Russland ist der Kirschgarten, sagt eine Figur in Tschechows Stück. Wir alle sind der Kirschgarten, sagt Philippe Fénelon in seiner gleichnamigen Oper, die jetzt an der Pariser Oper, Palais Garnier, uraufgeführt wurde.

Er meint damit nicht, wir alle seien Opfer von Spekulation und Spekulantentum, was ja auch aktuell naheläge. Fénelon und sein russischer Librettist Alexei Parine heben ganz auf die eher tiefenpsychologische Bedeutung ab, die das sozial vielfältige Charakterbild durchwebt. Der Kirschgarten, das sind auch unsere Erinnerungen an vermeintlich bessere Zeiten, an Jugendfreuden, Festglanz und Familienglück. Es ist das Kinderlachen Grichas, der später im Fluss ertrinkt. Es sind die Dienstbotenträume Douniachas, die sich den Kammerdiener einbildet. Es ist der idealistische Aufbruch von Lioubas Tochter Ania, die in der Stadt arbeiten will für eine gerechtere Gesellschaft. Es ist die selbstgewählte Unfreiheit des alten Dieners Firs, der nur so seine Aufgabe in der christlichen Weltordnung erfüllen zu können glaubt. Es ist sogar noch die Nostalgie des Kaufmanns Lopakhin, der als Sohn der Leibeigenen Lioubas hier den Duft der großen süßen Welt schnüffelte und mit dem Kauf des Kirschgartens das neue materialistische Zeitalter einläutet, das eben auch nicht ohne solche Sentimentalitäten wird sein können, weil es die Menschen sonst nicht ertragen.

Parine hat das Stück in einer großen Ballszene zusammengezogen und zeigt den Abschied von den Träumen des Kirschgartens als große Regression, gewissermaßen rückwärts vom Verkauf des Guts bis zu den Versteckspielen des jungen Gricha im Park. So legt der Librettist den Urgrund frei, aus dem alle Menschen leben. Nur solange er nichts von seiner Zukunft weiß, ist er glücklich. Fénelon seinerseits spielt in seiner Partitur mit der Musikgeschichte, erweckt die verschiedenen Nostalgien durch musikalische Reminszenzen (selten Zitate) an russische Volkslieder, orthodoxe Gesänge, Tschaikowskys Pathos, Wagnerschen Gesamtwohlklang, der sich mit großem fülligen Orchesterapparat der russischen Sprache entlangerzählt. Bei diesem Ansatz ist es klar, dass Fénelon hier keine Avantgarde-Musik liefert, sondern gewissermaßen gelehrte Regression, freiharmonisch, anspielungsreich, emotional gewinnend.

Startend als eher disharmonischer Gesamtklang, zerfällt die Musik immer mehr in einzelne Charakterstücke, so wie aus dem großen Ball einzelne Figuren sich lösen, sich oft sogar monologisch aussingen und dabei zuweilen Tanzformen wie Rondo, Polka oder Foxtrot folgen. Berührend ist vor allem der langsame Walzer Lioubas, ihre orchestral tief und weich unterlegte Lebensbeichte. Eine Traumrolle für große Sopranistinnen. Und dann versiegt auch manchmal der Orchesterstrom, klingt in einzelnen, verloren rufenden Instrumenten aus wie das Leben.
Das wird vom Pariser Opernorchester unter Tito Ceccherini farbenreich und in grundsätzlich füllig-weicher Manier umgesetzt. Elena Kelessidi singt Liouba mit noch eher schlankem Sopran, das dürfte eine schwerere Stimme sein. Herrlich leicht lichtert der Mezzosopran von Alexandra Kadurina als Gricha durch die Bilder. Auch dem alten Firs ist ein Mezzo zugedacht: Kesinia Vyaznikoya gestaltet den Monolog in anrührender Fülle. Und mit sattem Bariton verkündet Igor Golovatenko seinen Triumph als neuer Gutsbesitzer.

Wunderschön klingen auch die Frauenchöre, aber muss man sie so linear führen wie in Strawinskys „Noces“? Regisseur Georges Lavaudant hat statt eines großen andauernd bewegten Balls eine Stehparade abgeliefert. Erst als sich die Figuren und grauen Gespenster vergangener Bälle in den dicken Knorpelbäumen verfolgen, auf- und abtauchende Schemen der Erinnerung, bekommt seine Inszenierung die mythische Größe, die Stoff und Musik brauchen. Das hätte alles irrealer, traumhafter sein müssen. Fénelons nostalgisch schillerndem Werk gönnte man gern weitere Chancen in Richtung einer eher düsteren Ensoriade.