Die aktuelle Jury mit der scheidenden Leiterin des Theatertreffens Yvonne Büdenhölzer

Sieben Weise haben die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen erwählt

Das Theatertreffen 2022 soll wieder vor Ort in Berlin stattfinden. Und trotz aktueller Rekord-Inzidenzen stehen die Chancen für die Veranstaltung im Mai gesundheitspolitisch gesehen ganz gut. Zehn Inszenierungen sind wieder eingeladen; dass es Kirill Serebrennikows binationale Überraschungs- und Wunderinszenierung vom Thalia-Theater nicht geschafft hat, deutet auf eine gewisse Pragmatik der Jury hin; man hofft wohl, zehn Vorstellungen, zeigen zu können. Warum bei aller ansonsten ausgewogenen Berücksichtigung von Schweiz und Österreich diesmal keine Schweizer Produktion eingeladen ist, leuchtet mir allerdings nicht recht ein. Mir erschien etwa die Zürcher „Macbeth“-Variation „Before the Sky Falls“ durchaus „bemerkenswert“ – mehr zur Inszenierung, die Shakespeares Text und globale Konflikte dramaturgisch und schauspielerisch überzeugend verbindet, in unseren Februar– und März-Heften. Regie führte mit Christiane Jatahy eine Frau, so dass hier die Frauen-Quote auch nicht der Grund für die Nichtberücksichtigung sein kann.

Nun gut, meckern lässt sich immer; die Quote wurde auch so mit sechs von Frauen inszenierten Produktionen übererfüllt, ohne dass hier der Verdacht auf künstlerisch mindere Qualität entstehen könnte. Helgard Haug von Rimini Protokoll ist vielleicht die stille „Gewinnerin“ des Jahres. „All right. Good Night. Ein Stück über Verschwinden und Verlust.“ ist nämlich als einzige der Theatertreffeninszenierungen auch zu den Mülheimer Stücken eingeladen. Und Haug war in der letzten über die Jury ausgewählten Ausgabe 2020 schon vertreten, ebenso wie der japanische Regisseur Toshiki Okada, diesmal mit „Doughnuts“.

Schon die Tatsache, dass in fünf der zehn Inszenierungen im Titel englische Partien auftauchen, zeigt, wie weit sich das Theater von bildungsbürgerlich deutscher Selbstverständigung entfernt hat. In der Rimini-Produktion wie in der  wohl größten Überraschung, „Ein Mann seiner Klasse“ vom Schauspieler Lukas Holzhausen am Schauspiel Hannover inszeniert, überlagern Texteinblendungen bzw. eingespielte Sprache das Gespräch der Darsteller: Bühnensprache ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Die Signa-Performance „Die Ruhe“ ist ohnehin ein immersives Mitspiel-Format, Okadas Inszenierung hat starke choerographische Elemente, auch Pınar Karabuluts „Like Lovers Do“. Hier wie in zwei weiteren Produktionen spielt Musik, ja Popmusik eine zentrale Rolle. Darunter auch in meiner persönlichen Lieblingsinszenierung der Spielzeit, Christopher Rüpings „Das neue Leben. Where do we go from here“. Die Inszenierung ringt nicht nur Britney Spears einfühlsame Lebensweisheiten ab und verbindet dabei Dantes Werk und Leben mit dem Liebesleid gegenwärtiger Menschen, sie beeindruckt auch mit einem wundervoll intensiv-entspannten Ensemble.

Gestern wurde bei der Vorstellung der zehn eingeladenen Inszenierungen bekannt, dass Yvonne Büdenhölzer, seit 2012 die Leiterin des Theatertreffens, das Festival bereits nach der diesjährigen Ausgabe verlassen wird; sie kann oder will nicht mit dem neuen Intendanten der Berliner Festspiele, Matthias Pees, zusammenarbeiten. Auch wenn sie ausdrücklich und direkt nicht auf die Juryentscheidungen Einfluss nehmen konnte, hat Büdenhölzer das Festival geprägt und modernisiert. Durch die 2020 eingeführte und zunächst umstrittene Quote für einzuladende Regisseurinnen setzte sie ein Zeichen – und hat die künstlerische Qualität beileibe nicht „ruiniert“. Die Internationalisierung der Veranstaltung hat sie vorangetrieben. Ob der Stückemarkt in den letzten Jahren gewonnen hat, ist wiederum fraglich; Dramentexte, Klassiker wie neue Stücke, spielen jedoch ohnehin nicht mehr die dominierende Rolle im Theater. In der diesjährigen Auswahl sind  mit „Die Jungfrau von Orleans“ aus Mannheim und „Tartuffe“ aus Dresden Klassiker nur in starker Überformung dabei, neue Dramatik im engeren Sinn bietet nur „Like Lovers Do“.

Mit Mannheim, Hannover, dem Wiener Volkstheater und Dresden sind immerhin Häuser eingeladen, die in den letzten Jahren nicht oft beim Theatertreffen dabei waren. Dennoch ist auch diesmal wieder auffällig, dass die üblichen Verdächtigen dabei sind: Das Maxim Gorki Theater, die Münchner Kammerspiele, Bochum, Thalia Theater und Deutsches Schauspielhaus sowie die Schiene der großen freien Theater mit der Rimini-Produktion. Dass Graz, Essen, Mülheim oder Weimar eben doch eher keine Chance haben, zeigt jedenfalls die Short-List der 32 Produktionen in der engeren Wahl. Zu den oben genannten Städten kamen hier nur Basel, Oberhausen und Zürich hinzu. Das spricht nicht dafür, dass die Jury wirklich intensiv in allen Theatern neugierig gesucht hat. Hier sehe ich für die Zukunft einen dringenden Reformbedarf für das Theatertreffen.

Auch werden die neue Leitung der Festspiele und des Theatertreffens weiter überlegen müssen, was „bemerkenswertes“ Theater heute und in Zukunft denn sein soll. Ist es wirklich noch zeitgemäß, eine Blase von im Kern immer gleichen Kritikerinnen und Kritikern alleine entscheiden zu lassen? Wäre es nicht hilfreich, auch Stimmen anderer Experten aus der Theaterproduktion, Wissenschaft oder Theaterpädagogik in den Auswahlprozess mit einzubeziehen? Die „besten“ Inszenierungen sind Geschmackssache; für eine Werkschau des innovativsten und „bemerkenswertesten“ Theaters aus dem deutschsprachigen Bereich wäre eine Öffnung der Jury das richtige Zeichen.