Das Festspielhaus

Oberammergauer Passionsspiele eröffnet

Auf einmal ist der Ort voll. Und auf einmal ist Passion. Dann doch. Endlich. Mit zwei Jahren Corona-Verspätung kann die Premiere der Oberammergauer Passionsspiele stattfinden. Und wo in den Monaten vorher, bei all den Probenbesuchen, außer mir nur die Einheimischen auf den Straßen und im Theater waren, sind nun kirchliche und politische Ehrengäste aus aller Welt hier, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder besucht den Jesus-Darsteller Frederik Mayet in der Garderobe, kurz: der Bär ist los in dem kleinen Ort in den bayerischen Voralpen.

Die Spiele basieren auf einem christlichen Gelübde, das den Ort 1633 vor einer anderen Pandemie, der Pest, bewahren sollte. Der Überlieferung nach hat das funktioniert. Seitdem spielen die Dorfbewohner beharrlich alle zehn Jahre das Leiden Christi nach, lassen sich Haare und Bärte wachsen und investieren ein Jahr lang den Großteil ihrer Freizeit in Proben und Aufführungen. Irgendwann an diesem Vormittag kommt die Sonne raus, schleicht sich über den Tempelaufbau und scheint auf die Bühne des Passionstheaters in Oberammergau.

Wie immer beginnt der Premierentag mit einem Ökumenischen Eröffnungsgottesdienst. Kardinal Reinhard Marx und der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, halten ihn gemeinsam. Nicht nacheinander predigen sie, sie führen einen Dialog miteinander und setzen so eine der Botschaften dieser Spiele einfach in die Tat um. Ihr Zwiegespräch wird erstaunlich konkret, konfrontiert mit den Fragen, die gerade alle umtreiben: „Gewalt kann keine Lösung sein“, sagt Bedford-Strohm und fügt hinzu, dass wir aber auch nicht zusehen können, wenn Unrecht geschieht. Er spricht Antisemitismus, Klimawandel und den Ukraine-Krieg an, thematisiert unser aller „innere Zerrissenheit zwischen Gewaltfreiheit und der Verpflichtung zur Nothilfe“. Zu Gast ist auch Erzbischof Thabo Makgoba aus Südafrika. Chor und Kinderchor singen; die Spieler lesen Fürbitten; am Ende werden die Veteranen der Passion geehrt, die bereits acht, neun oder gar zehnmal dabei sind (es gab zwei Zwischenspiele, 1977 und 1984, sonst wäre das kaum möglich). Als der Gottesdienst mit einem „Halleluja“ endet, hat sie längst alle erfasst: die feierliche Premierenstimmung.

Das ist keine Kritik. Eine Theaterkritik über diese Passionsspiele zu schreiben, ist mir nicht möglich. Zu tief stecke ich im Kosmos Oberammergau drinnen. Seit 2019 habe ich die Entstehung dieser Spiele begleitet, Proben besucht, mit vielen Beteiligten gesprochen. Ich habe mitgelitten, als die Passion 2020 verschoben werden musste. Und ich habe mitgezittert und mitgehofft, dass sie 2022 stattfinden kann. Ich bin nicht objektiv genug, eine Kritik zu schreiben. Und doch: Diese Passion, die vierte von Spielleiter Christian Stückl, ist wohl die, die am nächsten an unserer Gegenwart ist. Der Chor schwebt nicht mehr sphärisch über den Dingen, er verkörpert die Oberammergauer selbst, die am Anfang ihr Gelübde sprechen und dann das Leiden Christi quasi als Spiel im Spiel darstellen. Viel stärker als bisher arbeitet Stückl die sozialen Aspekte heraus, zeigt Jesus als einen Kämpfer für die Belange derer, die hinten runter fallen. Schon beim Einzug in Jerusalem konfrontiert er die hohen Priester mit ihrer Scheinheiligkeit: „Sie sind hungrig, aber ihr gebt ihnen nicht zu essen! Sie sind durstig, aber ihr gebt ihnen nicht zu trinken! Die Fremden nehmt ihr nicht auf und die Nackten kleidet ihr nicht!“ Sätze wie diese gibt es viele in der neuen Textfassung, und sie katapultieren die uralte Geschichte direkt in unsere Gegenwart. Das Ensemble ist das jüngste der Historie, die Präsenz der Darsteller überwältigend. Frederik Mayet ist als Jesus wütender als 2010, Cengiz Görür kämpft als Judas mit sich und seinem Gewissen, David Bender führt als Engel souverän durch den Abend, aber auch die Älteren, wie Walter Rutz und Peter Stückl, tragen die Aufführung. Die Auferstehung, die eh eine Glaubensfrage ist, hält Stückl kurz: das Grab ist leer, die Auferstehung wird verkündet. Sehen aber tut man Jesus nicht noch einmal.

Nach der Aufführung leert sich das Dorf, feiern tun vor allem die Einheimischen. Am nächsten Morgen ist es wieder ruhig vor dem Passionstheater, ein paar Mitwirkende laufen herum, im Theatercafé lässt es sich entspannt frühstücken. Erst gegen Mittag wird es wieder voll werden, dann kommen tausende Besucher zur zweiten Vorstellung.

 

Von unseerer Autorin Anne Fritsch ist jüngst ein Buch über die Passionsspiele erschienen.