Freilufttheater über Kriegsheimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg - mit einem überzeugenden Schauspielerinnenquartett.

Sensible Dokumentation des Furchtbaren

Jens-Erwin Siemssen: Komme bald!

Theater:Bad Bederkersa / Das letzte Kleinod, Premiere:01.08.2020 (UA)Regie:Jens-Erwin Siemssen

Wie ein Geächteter, ein Ausgestoßener kam er in ein Land, in dem er nie zuvor gewesen war. Die Einsamkeit des gedemütigten, reumütigen und traumatisierten Kriegsheimkehrers, für den die Tür der Gesellschaft verschlossen ist, hat Wolfgang Borchert mit seiner Figur Beckmann geradezu ikonographisch beschrieben. Deswegen beendet der regieführende Autor Jens-Erwin Siemssen, Chef des Eisenbahntheaters Das letzte Kleinod, genau in dem Moment sein Stück „Komme bald!“, als die deutschen Kriegsgefangenen in den 1950er Jahren erstmals wieder heimischen Boden betreten und draußen vor der Tür stehen. „Was dann passierte, darüber haben meine Gesprächspartner auch kaum etwas erzählt“, sagt Siemssen. Sie waren halt nicht als Familienväter, Ehepartner oder frisch Verliebte zum mörderischen Dienst in Uniform gezwungen worden, sondern Jugendliche, eigentlich Kinder, die in den letzten Tagen des längst verlorenen Zweiten Weltkriegs noch etwas vom Leben als Schlachthaus erfahren mussten. Sechs Männer hat Siemssen interviewt, der jüngste war 92 Jahre alt, sie gehören zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen der Gefangenschaft in der Sowjetunion. Mehr als drei Millionen Menschen waren dort interniert, jeder Dritte überlebte das nicht. Die Berichte konzentrierte Siemssen zu vier vielleicht exemplarischen Biographien – als pointierte Impressionen eines Panoramas der verlorenen Kindheit und einer Jugend in Trümmern.

Kurze, schmucklose Aussagesätze sind zu hören, die in schnellem Rhythmus weitergereicht werden, als würden sich die Figuren miteinander erinnern, obwohl die O-Ton-Geber einander nie begegnet sind. Inszeniert ist das mit text- und artikulationssicheren Schauspielerinnen wie hochgeschwindtes Kurzpassspiel ballsicherer Kicker. Elisabeth Müller, Natalia Voskoboynikova, Margarita Wiesner und Regina Winter bilden ein höchst homogen agierendes Darstellerinnenquartett, das mit großer Empathie erforscht, was hinter dieser Jungsbegeisterung steckt fürs Militärische als Abenteuer und den Nationalsozialismus als Machodemonstration. Schon mutig, die Jungnazis nicht gleich zu kritisieren oder lächerlich zu machen, sondern als Menschen verstehen zu wollen. Damit deutlich wird, was die NS-Ideologie in den Heranwachsenden ansprach, um sie für die Hitlerjugend, die Gewalt der Gleichschaltung, für Kriegsterror und Genozid zu gewinnen.

Dabei hat das Ensemble den großen Vorteil, befreit von Coronabeschränkungen agieren zu dürfen. Zum Proben hatten sich alle mit Zelten vier Wochen lang in einem Wald quarantänisiert, jetzt ist das Team in den elf Wagen des Eisenbahntheaterzuges zu Hause, reist damit zu den Aufführungsorten, probt, schläft, kocht fortgesetzt darin und arbeitet in den Werkstätten. Lebt also wie eine Familie, darf sich dementsprechend auch in der Ausübung ihrer Kunst nahekommen und muss Requisiten nicht nach jeder Berührung desinfizieren. Theatermachen wie in präpandemischen Zeiten. Während das 60-köpfige Publikum in coronakrisenbedingtem Abstand auf Liege- und Klappstühlen das Breitwandgeschehen vor dem Zug verfolgt. Der bei der Uraufführung auf dem Bahnhof der Museumseisenbahn in Bad Bederkesa, Landkreis Cuxhaven, einmal nicht der eigene ist, da schrottreife Waggons das bespielbare Gleis besetzen, die aber als Kulisse vielleicht sogar noch besser zum Thema passen. Den idyllischen Hoffnungskontrapunkt spendiert die Natur gratis dazu: Im Sonnenuntergang hinter dem Geschehen turtelt unbeirrt von inszeniertem MG-Geknatter und Granatendonner ein Storchenpaar auf seinem Horst.

Die vier ineinander collagierten Geschichten erzählt Siemssen arg schlicht chronologisch. Pures Dokumentartheater ohne Fremdtexte oder andere modische Zutaten. Die Schauspielerinnen stellen die anfangs 16-jährigen Figuren Hans, Werner, Thomas und Willy vor. Ihre Schwärmerei für Hitler, Eroberungsfeldzüge und die braunen Uniformen der Faschisten. Aus einer Munitionskiste wird ein Dolch gefingert und verliebt getätschelt, sich im Hintergrund mit Zeltheringen als Schwertersatz duelliert, mit denen auch englische Fliegerangriffe gespielt werden können. Bald haben alle großen Spaß bei der Wehrmachtsgrundausbildung. Heben auch begeistert den Arm zum Gruße und pfeifen „Die Fahne hoch“. Singen nicht selten Naziliedgut, das mal von Taubengegurre aus den umliegenden Bäumen verhöhnt, mal zum Ausgangsort der Erzählungen wird. Bei der Verkündung von Hitlers Tod gackern irgendwo Hühner in der Nachbarschaft. Freilufttheaterzauber!

Wie immer bei Siemssen gibt es ein Requisit, das ständig mitspielt. In diesem Fall sind es Feldbetten, die zu einer dürren Spielpuppe zusammenzufalten sind, sodass eine Stützstange in die Waagerechte schnappen kann, als würde ein Gewehr präsentiert – oder ein Penis erigieren. Geht es doch um Jungs und ihre fehlgeleitete Potenz. Die Objekte können auch prima Pferde, Geschütze, Leichen, Feind- und Traumbilder darstellen. In einem Mannschaftszelt lassen sich zudem diverse Spielorte imaginieren. Todernst wird das naive Toben im Schützengraben an der Ostfront. Der Aufbruchswille weicht einer zwischen Angst und Neugier changierenden Haltung, die in sibirischen Straf- und Arbeitslagern in zunehmendes Entsetzen und Resignieren kippt. Bei Folter, Hunger, Kälte, schwerster Maloche. Und der Gedankendämmerung, sich mitschuldig gemacht zu haben am größten Verbrechen der Menschheit. Wenn es nach Jahren endlich zurück nach Deutschland geht, ist nur ein scheues „Wir sind frei“ zu hören.

Problematisch an der Inszenierung wirkt allerdings der Zwang, jedes Wort in Aktion übersetzen zu müssen. Was Hektik verbreitet und verhindert, dass die Darstellerinnen ihre Figuren entwickeln können. Bestenfalls verniedlichend ist es zudem, wenn von Explosionen beim Frontgemetzel die Rede ist und sogleich Zeltplanen in die Luft geworfen, Pfeif- und Krawumm-Geräusch gemacht werden. Und was bringt es, wenn eindrücklich über quälende Läuse berichtet wird und sich alle Schauspielerinnen dazu niederlegen, den Körper schmerverzerrt winden und wie irr an sich herumkratzen? Statt geradezu naturalistischer Illustration wäre eine kunstvoll überformende Bildsprache zielführender, um den Worten mehr Hall- und Assoziationsräume zu öffnen. Trotzdem ist „Komme bald!“ ein eindringlicher Abend über Furcht und Elend von Krieg und Kriegsgefangenschaft. Ein Abend ohne reflexhafte Schuldzuschreibungen. Ohne falsches Mitleid. Stattdessen: Mitgefühl. Die in Kooperation mit dem Frankfurter Kleist Forum entstandene Produktion tourt bis Mitte September durch Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hessen.