Foto: Das Dekameron - Pilotfolge des digitalen Theaterprojekts von vier.ruhr aus Mülheim © vier.ruhr
Text:Jens Fischer, am 17. April 2020
Es ist das Sujet der Coronasaison, der Text der Stunde. Würde es eine Werkstatistik der aktuellen Onlinespielpläne geben, ganz oben tauchte Giovanni Boccaccios Novellenzyklus „Il Decamerone“ auf. Weil er an Potenziale einer Quarantäne erinnert. Denn nicht nur Soziophobiker schätzen sie, in der Abgeschiedenheit könnte bei jedem aus dem Panikgefühl des Eingeschlossenseins auch die Ruhe der Konzentration erwachsen, sich ungestört mit schönen Dingen zu beschäftigen. Boccaccio fabuliert von zehn jungen, feinst gebildeten, adelig reichen Menschen, die während der Pest in Florenz des Jahres 1348 in ihr arkadisches Landhaus in den toskanischen Hügeln fliehen – sie suchen Abstand, wollen Mut schöpfen gegen das Siechen und Sterben und vertreiben sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. 100 hat Boccaccio zusammengetragen, meist geht es ein bisschen erotisch und durchaus humorvoll um amouröse Abenteuer, pfiffige Betrügereien, sinnliche Räusche, romantische Gefühle und unglückliche Liebe.
Für das Projekt „Dekamerone-19“ hat der französische Theatermacher Sylvain Creuzevault weltweit Schauspieler gefragt, ob sie von daheim Passagen aus dem Buch aufnehmen, pro Tag erweitert sich die Hörspielfassung um ein Kapitel. Dabei nicht involvierte Theater lassen gern ihr eigenes Ensemble aus dem Werk vorlesen. Schauspieler sitzen also an einem Tisch auf einer leeren Bühne, in einem Black Cube, daheim auf dem Sofa und erledigen treulich ihren Job ohne großen Kamerakontakt oder rezitieren präzise vom Teleprompter, gucken dabei starr nach vorn. Selten kommen die Vorleser ins spielerisch lebendige Lesen. Da geht mehr, scheint sich die Theaterallianz vier.ruhr zu denken, eine Kooperation des Theaters an der Ruhr, Ringlokschuppens Ruhr und der Theatertage „Stücke” – alles Mülheimer Theatermenschen. Seit September 2019 „(er)finden“ sie, so die Selbsteinschätzung, „Strategien der Zusammenarbeit“. Jetzt wollen sie „Das Dekameron“ als „digitales Live-Theater frei umkreisen“.
Da es in Mülheim keine schnieke Landhausidylle gibt, wurden zehn Künstler(gruppen) der Region geladen, in ihrer Kontaktsperre-Existenz der heimatlichen Wohnung selbst Decamerone zu spielen: „Zehn Geschichten, zehn Weltentwürfe“ sind angekündigt, immer donnerstags werden sie ab 21 Uhr live produziert und per Youtube ausgestrahlt. Gestern war die Pilotsendung zu streamen. Vorstellung der Beteiligten, Einführung in ihre künstlerischen Auseinandersetzungen, Neugier wecken auf die folgenden Episoden.
Der von Konstantin Küspert apart formulierte Prolog über unsere Krisenzeit kommt optisch reizvoll als Stabpuppen-Schattentheater daher, gestaltet vom Medienkollektiv Sputnic. Für die Conférencier-Zwischenszenen nutzt Regisseur Philipp Preuss den aus seiner „König Ubu # Am Königsweg“-Inszenierung im Theater an der Ruhr bekannten Nacktkörper des von Thomas Schweiberer gespielten Ubu des Alfred Jarry. Knutschrot geschminkter Bauchnabel als Mund, zwei Farbkleckse als Nasen und die Brustwarzen als Augen: Muskelspiel bringt Leben in dieses Gesicht eines Ekels. Schon startet der Beitrag des Bochumer Kainkollektivs. Zwei schauspielerisch und im Umgang mit Live-Video dilettantisch wirkende Performer halten Artauds Buch „Das Theater und sein Double“, Videos auf ihrem Laptop und ihre sonnenbebrillten Köpfe in die Kamera und lesen hampelig einen angeberisch schlaubergernden Zivilisationskritik-Text von Zetteln ab. Total improvisierter Theateraktionismus, wie sie sagen und daraufhin fragen: „Ob das jemand braucht?“
Die anfänglich gegen 300 strebende Zuschauerzahl halbiert sich peu à peu. Ein guter Grund dafür ist das folgende pathetische Bilderrätsel von Albrecht Hirche. Hübsch hingegen das unübersichtlich mit einem langsamen Schwenk aufgenommene Menschengewusel auf einer Couchlandschaft – eine kleine Provokation zum Social Distancing, gestaltet vom Bochumer „KGI – Büro für nicht übertragbare Angelegenheiten“. Das Bochumer Theaterkollektiv Anna Kpok lässt viele Köpfe in müder Diktion die Bildbeschreibung eines Pest-Szenarios im Videokonferenzdesign vortragen. Unerträglich dann die grotesk schlechte Bild- und Tonqualität, mit der der Kameruner Theatermacher Martin Ambara irgendetwas vermitteln will, was komplett unverständlich bleibt. Der Bonner Cocoon Dance Compagnie gelingt immerhin ein optisch okayes, letztlich aber plump mit PR-Phrasen vollgestopftes Werbevideo für ihre geplante Performance. Das Mülheimer Collective Ma’louba lässt – in einer erneut miserablen Aufnahme – eine Frau auf Arabisch (ohne Untertitel) reden und zeigt dazu, wie ein Salat geschnippelt wird. Schließlich versammeln die Köln-Düsseldorfer Subbotnik-Performer einige Wesen virtuell an einen Tisch, endlich soll decameronisiert, sich dem Storytelling hingeben werden, man entscheidet sich dann aber doch für ein Gitarrensolo. Licht aus, Dunkelheit und vorbei. Keine Überlebenserzählung, nirgends.
Im Chat blinken alberne Emojis in coolen Posen und klatschende Hände. Auch ein in Worte gefasster Kommentar ist zu finden. „Ich habe Sehnsucht nach dem Theater, aber das hier hat in mir eher das Gegenteil erzeugt. Schade.“ Darauf antwortet „vier.ruhr“: „Wir vermissen das analoge Theater auch wirklich sehr! Die Begegnung von Menschen im gleichen Raum kann man nicht ersetzen. Bis bald bei einer echten Vorstellung im Theatersaal.“ Gerne. Nur: Wenn das hier nur Ausdruck der Quarantäne-Langeweile ist, bis es irgendwann mal wieder um das Eigentliche geht, warum dann der inhaltlich meist leerlaufende, technisch teilweise katastrophale, künstlerisch öde Aufwand? Dieser 90-minütige Pilotfilm ist leider eher abschreckend – für das, was da hoffentlich kreativ noch kommt.