Anton Dreger, Antonia Bockelmann und Marie-Paulina Schendel in der Bamberger Uraufführung „Der endlos tippende Affe“

Krisentagebuch 38 – Was ist eine Solidargemeinschaft?

 

Ein Krisentagebuch der Dramaturgin Victoria Weich vom ETA Hoffmann Theater Bamberg

 

Die pandemische Realität ist, so düster sie ist, schnell umrissen: Österreichs und Sachsens Theater sind geschlossen, in Bayern spielen wir vor 25 Prozent der Zuschauer:innen. Noch. Alles trotz gründlich gesetzter und befolgter wie kontrollierter Auflagen. 25 Prozent der Zuschauer:innen – das ist weniger als jemals in der Pandemie, zudem sind alle geimpft/genesen und getestet und sitzen mit FFP2-Maske im Saal. Im übrigen Deutschland sind mindestens ähnlich strenge Maßnahmen möglich; Omikron kommt, die Gesundheitsexpert:innen und Virolog:innen halten einen erneuten Lockdown für erforderlich. Das Virus ist hartnäckig und wird uns wahrscheinlich noch Jahre begleiten. Wie werden wir 2023, 2024… Theater machen? Für wen und mit wem? Glauben wir dem vorherrschenden Diskurs, driftet die Solidargemeinschaft der Bürger:innen auseinander. Es wird über die sogenannte „Spaltung der Gesellschaft“ diskutiert. Die Bilder aus Rotterdam oder anderen Städten, in denen Gegner:innen der Maßnahmen, Nazis und andere Gewaltbereite Fahrräder und Polizeiautos anzünden, wirken nach. Die Politik nimmt Rücksicht auf diejenigen, die sich am wenigsten für die Gesamtsituation verantwortlich zeigen. Doch zum einen steht zur Debatte, ob „die Gesellschaft“ nicht stets in ihren Einzelinteressen wahrzunehmen wäre, zum anderen können wir gegen die vermeintliche Spaltung ja etwas unternehmen. Verantwortung und Solidarität sind große Worte. Aber wo beginnen diese Werte?

Ich stehe vor Schauspieler:innen, mit denen wir drei Tage vor der Premiere besprechen, dass sie in einen weitestgehend leeren Saal blicken werden. Keine:r murrt. Ich halte das inzwischen für ein kleines Wunder. Junge Menschen, von den Schauspielschulen kommend, die ihren Beruf fast nur mit COVID kennen; erfahrene Kolleg:innen, die die Bühne brauchen, wie die Luft zum Atmen; Leute aus den Gewerken, die stolz auf ihre Bauten sind: All jene nehmen ihre Verantwortung ernst. Es wurde geimpft, es wird getestet und Abstand gehalten. Alles, damit der Lappen hochgeht. Damit wir, und wenn es nur für ein paar Menschen ist, Freude und Reflexionsmöglichkeit, gesellschaftliche Auseinandersetzung und Ablenkung bieten können. Ich möchte es mir so erklären: Das Theater muss im Kern also einer verschwenderischen, antikapitalistischen und menschenfreundlichen Ideologie folgen. Wir sind zäh, anpassungsfähig und getragen von der Überzeugung, dass es hellere Zeiten geben wird. Ich bin überzeugt davon. „Glauben Sie an tas Theater! Es kann nur besser werten!“, sagt die „Teutsche Theatertirektion“ in Björn SC Deigners Stück „Der endlos tippende Affe“, das wir letzte Woche uraufgeführt haben.

Ja, glauben Sie, und glauben wir selbst daran! Hier ist ein Trupp von Menschen, der in der – aus irgendwelchen Dramaturgiezimmern der Republik ausgerufenen – Behauptung lebt, Theater sei ein Ort der Demokratie, eine Gesellschaft im Kleinen. Und was wäre das für eine erstrebenswerte Gesellschaft im Großen: Ich erfahre keine Spaltung. Wenn hier Verantwortung (Befolgen der Regeln, besonnenes Handeln) und Solidarität (Unterstützung innerhalb des Ensembles und des Kollegiums, Zuspruch, Empathie) wirken können, so ist das ja wohl auch andernorts möglich. Ich habe mir den Beruf am Theater unter anderem ausgesucht, weil selten so viele unterschiedliche Menschen an einer Sache, an einem Ort, arbeiten, mit komplett divergierenden Ansprüchen an ihren Arbeitsalltag. Aber wir schaffen das irgendwie, seit nun fast zwei Jahren unter widrigen Bedingungen. Kleinen Theatern, den Freiberufler:innen und den Kommunen ging und geht es an den Kragen. Ich bin mir schmerzlich bewusst, dass es sich erstmal ausdünnen wird, nicht nur in den Reihen des Publikums, sondern auch bei denen, die auf den Bühnen stehen. Mir blutet das Herz. Auch weil es zum „Steine scheißen“ (wieder Björn SC Deigner) ist, dass dieser solidarische und tapfere Trupp so viel einstecken muss. Und auch kann. Und auch will, weil es eine Durchhaltestrategie ist.

Nur brauchen wir für die Zukunft nachhaltige und kunstfreundliche, monetär realistische, horizonterweiternde Pläne und pragmatische Vorschläge. Ich will verschwenderisch mit Ideen sein, aber nicht, weil mich die Situation dazu zwingt (über pandemiebedingte Veränderungen) zu hirnen, sondern weil neben Solidarität und Verantwortung, die vor allem nach innen wirken, radikale Offenheit, Verschwendung und Mut um sich greifen sollen! So lange noch Krise ist – und dieses Tagebuch besteht – gilt es, die Situation auszuhalten und zu gestalten. Die Erfahrung zu machen, dass ich inmitten von Mitstreiter:innen und Unermüdlichen bin, ist ein Pfund, auch für die kommenden Jahre. Augen auf und durch!

 

Victoria Weich, Foto: ETA Hoffmann Theater Bamberg

Victoria Weich (Foto: ETA Hoffmann Theater Bamberg)