Screenshot der Pressekonferenz nach der Bund-Länder-Videokonferenz zum Corona-Lockdown. Von links: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, Bundeskanglering Angela Merkel und der bayerische Ministerpräsidenten Markus Söder.

Krisentagebuch 29 – Das Theater der Symbolpolitik

Der Berg kreißte – und gebar eine Maus. So jedenfalls wirkt das Ergebnis jener Videokonferenz der bundesdeutschen Staats- und Landeslenker zum Corona-Lockdown auf mich, die durch die vorab lancierten Papiere und Meinungen von Bund und Ländern und den Konferenz-Schiffbruch in gleicher Besetzung eine Woche zuvor nachgerade zum Showdown hochgerockt worden war. Dass diese Maus, die Angela Merkel und die Ministerpräsidenten nun auf das Virus loslassen wollen, die Pandemie besiegen wird, das glaube, wer kann. Einiges wird ein bisschen strenger, ja. Aber im Prinzip bleibt die Ratio des Maßnahmen-Sets so schwammig wie bisher. Insofern gebe ich Markus Söder Recht: Das Papier ist an vielen Stellen noch nicht klar genug.

Durch den ersten Lockdown-Light-Monat, so wissen wir es von den Virologen, hat sich die Steigerung der Infektionszahlen derzeit auf einem „Plateau“ stabilisiert, wo die Ausschläge auf einen einstelligen Prozentbereich abgeflacht wurden. Was ja schon mal gut ist. Aber das Plateau ist viel zu hoch. Wie mit diesen Maßnahmen in absehbarer Zeit wieder eine Inzidenz-Zahl von unter 50 erreicht werden soll, ist mir schleierhaft. Bräuchten wir nicht strengere Ausgangssperren? Und endlich klare Regeln für Synchron-Unterricht an den Schulen? Wie sehen Maßnahmen bei Hotspots genauer aus? Wieso gelten im ÖPNV weiter keine Abstandsregeln? Welche Regeln gibt es für Reisen in den Weihnachtsferien? Wie kann es sein, dass Silvesterfeiern mit zehn Beteiligten generell erlaubt und Straßenfeuerwerk nicht generell verboten ist? Wer weiß, wie auch abseits „belebter Plätze“ in Dörfern und auf Nebenstraßen alkohol-beschwingt „geböllert“ wird, kann Karl Lauterbachs Furcht vor einem „Kick-Starter für die Pandemie“ gut nachvollziehen.

Warum ich das alles schreibe, hier auf einer Seite, wo es doch um Theater gehen soll? Ganz einfach: Wären die neuen Regeln konsequent, könnte ich akzeptieren, dass sich auch die Theater der Solidarität im Verzicht anschließen müssen. In diesem Sinne habe ich die Theaterschließung bisher ja verteidigt, obwohl die schlampige Begründung dafür Ende Oktober aus meiner Sicht ein politischer Skandal war. Aber seit gestern habe ich den Eindruck, dass bei uns jedes stringente Konzept im föderalistischen Interessengeschiebe zerbröselt wird. Vor diesem Hintergrund wirkt die Fortschreibung der Theaterschließung, obwohl fast jeder Virologe ihnen nur eine marginale Rolle beim Infektionsgeschehen bescheinigt, auf mich wie Stellvertreter-Politik: Man handelt nicht dort, wo es infektionshygienisch am nötigsten wäre, sondern dort, wo es unter ökonomischem und populistischem Aspekt relativ schmerzfrei für „das System“ möglich ist. Die Theater müssen symbolisch für einen Lockdown einstehen, den man an den entscheidenden Stellen gar nicht umsetzt.

Man muss ja sogar befürchten, dass das Spiel weiter geht. Was, wenn die Zahlen auch Anfang Januar noch hoch über der 50 sind und der Lockdown dann genauso halbherzig weitergeht? Dann würden wohl erst Impfungen, so sich die Hoffnungen erfüllen, jene Brechung der Infektionswelle bringen, die am Ende auch den Künstlern wieder den direkten Weg zu ihren Zuschauern ermöglicht. Das aber würde bedeuten, dass die Kunst auf Monate keine Situationen des gemeinsamen Erlebens, Denkens und Fühlen stiften darf. Und das in einer existenziellen gesellschaftlichen Stresssituation, wo solche Erlebnisse nötiger wären denn je. Das kann nachhaltige Kontaktschäden zwischen Theater und Publikum nach sich ziehen. Und es macht diese Gesellschaft in der Krise noch ärmer.