Falk Richter, Hausregisseur der Münchner Kammerspiele, im Juni noch frohgemut in den Klauen des bayerischen Löwen

Krisentagebuch 26 – Lockdown auf Bayerisch

Das Virus verschwindet nicht, wir müssen lernen, vorerst damit zu leben. Die Zahl der mit dem welterschütternden Krankheitserreger Infizierten steigt in Europa sogar besorgniserregend. Dabei ist ziemlich klar, dass es vor allem darum geht, private Kontakte und Feierlichkeiten zu begrenzen. Mit dem Virus zu leben und dabei das Risiko von Ansteckungen zu minimieren, bedeutet dass Theater mit gründlichem Hygienekonzept weiterhin für eine (stark reduzierte) Zahl an Zuschauern spielen, um sie zu unterhalten, und um sich gemeinsam mit Fragen unseres Zusammenlebens zu befassen, dessen Fragilität gerade jetzt so deutlich wird.

Als ich vor einigen Wochen (für mein Porträt über Falk Richter) an den Münchner Kammerspielen war, haben mich die von allen dort Beschäftigten genau, ja penibel eingehaltenen Vorsichtsmaßnahmen sehr überrascht und beeindruckt; ebenso am nächsten Tag bei der Pressekonferenz des Residenztheaters. Auch wenn ich nicht der erste bin, der das feststellt: In den folgenden Aufführungen, die ich besuchte, konnte ich mich im Publikum weit sicherer fühlen als in Cafés, öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Wartezimmern. Es sind keine Ansteckungen von Zuschauern in Theatervorstellungen bekannt.

Über die Sprunghaftigkeit des Umgangs mit Theatern und Konzerthäusern hat Detlef Brandenburg im letzten Krisentagebuch vom 20.10. bereits im Hinblick auf die irrlichtierende Rolle von Nordrhein-Westfalen und seinem Landesfürsten berichtet. Die für alle anstrengende Situation in der Pandemie wird so noch unnötig mühsamer und frustrierender. Der bayerische Löwe alias Kanzlerkandidatenkandidat Söder hat eine wesentlich klarere Linie gefahren. Was nicht heißt, dass im Freistaat mit Tests im großen Stil und digitalem Unterrichten alles reibungslos geklappt hätte. Dennoch sind die Ansteckungszahlen in Bayern stark gestiegen und staatliches Handeln ist geboten; das hat allerdings nur Sinn, wenn die Bürger animiert werden, sich in ihrem Alltag aus eigenem Antrieb verantwortungsvoll zu verhalten.

Doch nun ist das Land Bayern dabei im Hinblick auf die Theaterhäuser seine Verordnungen maßlos zu überziehen. Wenn in Städten oder Landkreisen mit einem Inzidenzwert von über 100 generell nur noch 50 Zuschauer in einem Raum zusammenkommen dürfen, gleicht das für große Theater einem Lockdown. In Augsburg ab sofort, in München (mit einem aktuellen Inzidenzwert von 86,8) in den nächsten Tagen – 50 Zuschauer sollten für die Staatsoper mit ihren über 2.000 Plätzen in einem Riesenraum genauso gelten wie für deutlich kleinere Bühnen. Hier werden mit einer Rasenmähermethode alle Bemühungen zunichte gemacht, sorgfältig abgestimmt und individuell im Kulturbetrieb auf das Virus zu reagieren. Corona ist gefährlich und wird von den allermeisten Theaterleuten sehr ernst genommen.

Gerade die großen Theater verfügen – ganz anders als Schulen – über wirkungsmächtige Klimaanlagen, die für das Raumklima auch aus medizinischer Sicht von größter Bedeutung sind. Eintrittskarten werden zusammen mit virologischen Abhandlungen per Mail zugeschickt, die Zuschauer sorgfältig zu ihren Plätzen navigiert, Premierenfeiern abgesagt oder mühsam coronagerecht inszeniert. In den letzten Monaten haben sich Theaterleute zu Virusexperten entwickelt. Die Theater haben keine Mühen gescheut und sind epidemologisch und damit im Sinne der Gesellschaft vorbildlich mit der Situation umgegangen. Das wird mit Söders Federstrichpolitik ignoriert. Und ähnliches gilt auch für den anderen Freistaat. In Sachsen gibt es bereits eine generelle und undifferenzierte Zuschauerbegrenzung auf 100 bei einem Inzidenzwert über 50.

Das ist unsinnig und bringt Theater nicht nur zur Verzweiflung, sondern in Existenznot. Denn es geht darum, dass wir lernen, verantwortungsvoll mit dem Virus zu leben. In Ensembles kam und kommt es immer wieder zu Infektionen. Nicht nur der Ballkünstler Serge Gnabry ist in der bayerischen Landeshauptstadt betroffen, sondern auch Ballettkünstler vom Staatsballett samt Quarantäne für das gesamte Ensemble. Das ist bitter, im Ganzen aber handhabbar. Die sich auftürmende zweite Welle ist für uns alle psychisch wesentlich schwerer zu verkraften als die erste. Denn der Schrecken scheint endlos, jedenfalls droht ein Winter des Missvergnügens.

Wer als Politiker in dieser Situation nicht an die befreiende und diskursive Kraft des Theaters glaubt – mit einem strengen Hygienekonzept, wie es durchgehend existiert –, sondern lieber am Parlament vorbei mit pauschalen, sachlich extrem ungenauen Erlassen hantiert, der gefährdet die mentale Gesundheit der Gesellschaft. Die gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen des Virus ist notwendig, ganz besonders in den Theatern. Wie sollen wir sonst aus dem Leiden lernen?