Die Mezzosopranistin Cecelia Hall, die Pianistin Sarah Tysman und die Sopranistin Maria Bengtsson (v. l. n. r.) bei einem Recital im Frankfurter Opernhaus, das nach Corona-Regeln „ausverkauft“ war.

Krisentagebuch 22 – Vorsicht ist die Mutter der Virenkiste

In Deutschland singt man auf den Föderalismus gern das hohe Lied der Subsidiarität: Froh ist, wer das Seine selbst regeln kann, ohne Dirigismus von oben ganz im Reinen mit sich. Aber ich habe inzwischen so meine Zweifel, ob man diesem Loblied eine Strophe über die Corona-Pandemie hinzufügen sollte. Und das gleich aus zwei Gründen. Erstens schert sich das SARS-CoV-2-Virus einen Teufel um Landes Sitte und Volkes Gemüt. Es nutzt jede Gelegenheit, die man ihm zur Weiterverbreitung bietet, egal ob auf Bergeshöhen oder am Nordseestrand. Und zweitens schauen die Bürger der Bundesrepublik Deutschland gar zu gern über die Grenzen ihres Bundeslandes hinweg. Und da beruft sich der lustige Rheinländer im Corona-Rekordland NRW gern auch mal auf jene Regeln, mit denen er sich gerade im Urlaub anderswo so wohl gefühlt – und möglicherweise angesteckt hat.

Mit anderen Worten: Das Regelungswirrwarr verführt dazu, sich den genehmsten Weg herauszupicken und sich im Privatleben sein eigenes Corona-Hygienekonzept zu zimmern. Dabei unterliegt schon das Argument, etwas habe sich „bewährt“, einem gefährlichen Trugschluss. Denn in der Regel weiß kein Mensch, ob das Ausbleiben von Infektionen trotz lockerer Regeln daran liegt, dass diese wirklich einen hygienisch ausreichenden Schutz bieten, oder aber daran, dass aus purem Zufall kein Infizierter an der als Berufungsinstanz herangezogenen Situation beteiligt war. Wir wissen ja überhaupt noch immer verzweifelt wenig über dieses Virus. Es verbreitet sich durch Aerosole, okay. Aber ab wann wird eine Virenkonzentration infektiös? Wie lange muss ein Infizierter einen wie großen Raum wie beatmen, damit es für andere ansteckend wird? Wie verhalten sich Virenkonzentration und Luftbewegung zueinander? Wie lange muss man einer infektiösen Konzentration ausgesetzt sein, bevor es einen wirklich erwischt? Das einzige, was wir wissen ist: Die Infektionszahlen steigen wieder. 1707 Neuinfektionen meldet das Robert-Koch-Institut heute .

Vor diesem Hintergrund erfüllt mich die gerade wieder aufbrechende Lockerungs-Diskussion um die Besetzung der Konzert- und Theatersäle mit Sorge. Losgetreten hat sie ausgerechnet die renommierte Berliner Charité. Deren Institute für Sozialmedizin und Epidemiologie sowie für Hygiene und Umweltmedizin gaben vor zwei Tagen eine Empfehlung heraus, nach der trotz der andauernden Corona-Pandemie wieder sämtliche Plätze bei Klassikkonzerten und Opern besetzt werden könnten, wenn gewisse Regeln eingehalten werden. Regel Nummer 1: Alle Besucherinnen und Besucher müssten während der gesamten Veranstaltung einen Mund-Nasen-Schutz tragen, – und zwar ordnungsgemäß abdeckend und ohne heimliches Lüftungspäuschen. Tja, kann man nur hoffen, dass das klappt. Dann aber würden laut Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologien, „etwa 95 Prozent der Viruslast absorbiert“.

Dass der Vorstand der Charité sich von dieser Empfehlung prompt distanzierte, stärkte nicht gerade das Vertrauen in die wissenschaftliche Aufklärungsarbeit. Gleichwohl wurde die frohe Botschaft aus dem lockeren Berlin sofort vernommen – beispielsweise im gestrengen Bayern, wo heute in der AZ München ein Artikel von Wolfgang Braunmüller erschien, der zwar die Charité-Studie kritisiert, andererseits Markus Söder aber mit Blick auf die Nachbarländer Österreich und Schweiz, die bereits wieder einen Spielbetrieb mit knapp halbvollen Sälen erlauben, eine „Politik der Angst“ vorwirft. Wer soll da als vertrauenswürdiger Ratgeber gelten: die uneinige Charité? Die Angst? Oder die AZ München?

Diese Situation der Unsicherheiten ist Folge eines Vakuums, das nicht nur die Unwissenheit über das Virus, sondern auch die Politik des Bundes und der Länder hervorgebracht hat: durch mangelnde Abstimmung und zögerliches Reagieren auf neue Entwicklungen. Eine „Politik der Angst“ sehe ich viel eher in den hinhaltenden Reaktionen auf die steigenden Infektionszahlen, wo die Politik aus Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen in Tourismus oder Gastronomie offenbar vor konsequentem Handeln zurückschreckt. Wie kann es sein, dass in den Zügen der Deutschen Bahn und den Flugzeugen der Lufthansa keine Abstandsregeln gelten, im Theaterparkett aber doch? Warum gibt es immer noch keine einheitlichen Teststrategien, die sich nicht scheuen, corona-abenteuerlustige Urlauber für die Konsequenzen ihrer Risikofreude aufkommen zu lassen? Wieso wurde in der Frage der Schaffung von Rahmenrichtlinien für Schulen und Kitas der gesamte Sommer verpennt? Und wieso soll es in den NRW-Theatern (Veranstaltungen mit maximal 300 Teilnehmenden ohne Hygienekonzept möglich) lockerer zugehen als in bayerischen Kultur-Auditorien (maximal 200 Menschen nur mit Hygienekonzept möglich)?

Aber es hilft ja nichts: Solange die Politik nicht für Klarheit sorgt, müssen das die Häuser selber tun. Sie sollten auf das Wirrwarr der Lockerungs-Empfehlungen defensiv und transparent reagieren. Da finde ich angesichts der vielen Corona-Ungewissheiten eine abwartende Haltung nicht ängstlich, sondern verantwortungsvoll. Und die Theater haben ja auch längst ihre Hygienekonzepte entwickelt, die im Zuschauerraum in der Regel 1,5  Meter Sicherheitsabstand für Zuschauer ohne Mund-Nasen-Schutz vorsehen. Dabei sollten sie bleiben. Damit sollten sie in die Saison starten. So sollten sie ihrem Publikum ein Gefühl von Sicherheit und Sorgfalt vermitteln – und dann in Ruhe schauen, welche Erfahrungen sie machen. Der NDR zitiert den Rostocker Intendanten Ralph Reichel so: „Es gibt einzelne Veranstaltungen, wo man auf Masken zurückgreifen würde, aber prinzipiell wollen wir unserem Publikum nicht zumuten, eine Veranstaltung komplett mit Maske wahrzunehmen. Das passt nicht wirklich zu einem genussvollen Theater- und Konzertabend. Wir akzeptieren dann eher den Abstand und nur Sonderveranstaltungen machen wir mit Maske.“ Recht hat er!

Übrigens erschien parallel eine weitere Empfehlung der Charité-Institute, die sich mit den Abstandsregeln für Sänger und Orchester hinter der Bühne beschäftigt und moderatere Regelungen als bisher vorschlägt. Und Stefan Willich, selbst Dirigent und vormals Rektor der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin, kündigt in der FAZ zudem für das Winterhalbjahr eine weitere, breit angelegte Studie mit mehreren Profi-Chören und -Orchestern zum Infektionsgeschehen in diesen Ensembles an. Dabei kommen dann hoffentlich belastbare Erkenntnisse darüber heraus, was die mehr oder weniger moderaten Abstandsregeln wirklich wert sind. Genau das ist der Weg: das Unwissen durch Forschung aufhellen und so zielgerichtetes Handeln ermöglichen. Bis dahin aber gilt: Vorsicht ist die Mutter dieser vermaledeiten Virenkiste!