Nordrhein-Westfalen lockert weiter - Screenshot des Portals „Wir in NRW“

Krisentagebuch 16 – In voller Besetzung!

Die Theaterparketts sind entstuhlt. Und wenn das Gestühl noch drin ist, dann sind in der Regel drei Viertel der Sitze gesperrt. Die Theater haben unter diesen Bedingungen sowie einem ganzen Katalog von weiteren, die dafür sorgen sollen, dass dem Infektionsschutz nach neustem epidemiologischem Standard Genüge getan ist, auf dass sowohl die Künstler wie auch ihr Publikum optimal geschützt seien – die Theater also haben unter diesen alles andere als komfortablen Bedingungen in den vergangenen Tagen landauf, landab einen mehr als respektablen Reigen von Premieren über die Bühne gebracht. Künstlerisch war das eine eindrucksvolle Selbstbehauptung. Aber ob der Schutz ausreichend war, werden wir aufgrund der tückisch langen Inkubationszeit dieses Virus frühestens Anfang kommender Woche wissen. Und da ja alles erstmal ganz gut lief, da auch alle glücklich waren mit diesem Verlauf und selig, Kunst wieder live auf der Bühne zu erleben, hätte man erstmal zufrieden abwarten können, um zu schauen, was kommt.

Nicht so Armin Laschet und seine Regierung im Bundesland Nordrhein-Westfalen, das im bundesweiten Vergleich nach den absoluten Zahlen noch immer die zweithöchsten Corona-Fälle ausweist – Tendenz gleichbleibend. Mit Datum vom vergangenen Donnerstag, der im katholischen NRW sinnigerweise als Fronleichnams-Feiertag firmierte, teilte die NRW-Landesregierung mit, dass Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern unter bestimmten Bedingungen auch ohne Einhaltung des Mindestabstandes von 1,5 Metern wieder erlaubt sind. Dann nämlich, wenn es feste Sitzplätze für die Teilnehmer gibt und einen Sitzplan, der die Rückverfolgung der Besucher gewährleistet. In fast allen Theatern gibt es feste Sitzplätze. Und durch den Kartenkauf für einen bestimmten Sitz lässt sich die Rückverfolgung der Teilnehmer relativ leicht sicherstellen. Es kann also wieder losgehen an den NRW-Theatern. In voller Besetzung!

Natürlich würde man sich darüber gern freuen, ja, man möchte jubeln als Theaterfan und als Theatermacher. Wenn das alles nur nach den neusten virologischen Erkenntnissen abgesichert und mit den zuständigen Kulturfunktionären mit nachhaltiger Perspektive abgestimmt worden wäre. Doch nichts davon ist der Fall. Wieder einmal kam die Entscheidung aus heiterem Himmel. Und wieder einmal gilt sie von jetzt auf gleich. Die Infektion durch Aerosole, die allein durch Sprechen, ja durch den Atem verteilt werden können, spielt in den Infektionsszenarien der Virologen eine immer größere Rolle. Genau die Zuschauer-Situation, die das Land NRW wieder zulässt, ist wie gemacht für diesen Infektionsweg. Bundesweite Standards für große Veranstaltungen von über 100 Personen dagegen tragen genau dieser Gefahr Rechnung. Jetzt konkurrieren diese Empfehlungen mit den neuen Regeln im Land NRW.
 
Nur zur Erinnerung: Sein eigenes Festival, die Ruhrtriennale, hatte das Land NRW eilends abgesagt, obwohl die Intendantin Stefanie Carp angeboten hatte, ein Corona-sicheres Durchführungskonzept zu entwickeln. Die kommunalen oder privat getragenen Bühnen aber lässt das Land nun in einer äußerst riskanten Situation wieder einmal allein mit der Corona-Gefahr. Dabei ist das rechtliche Risiko, das die Veranstalter – also die Theater selbst und ihre Betriebsleiter – im nun entstanden Wirrwarr der Regeln eingehen, womöglich gar nicht das größte Problem. Aber was, wenn das Experiment schiefgeht? Was, wenn in den vollen Theatern das passiert, was bereits in bei Gottesdiensten, Karnevalsfesten, Chorproben oder Fußballspielen passiert ist? Aufgrund seines Durchschnittsalters zählt das Theaterpublikum in Deutschland zum größten Teil zur sogenannten Corona-„Risikogruppe“. Wenn diese Theaterklientel den Eindruck gewinnt, dass sie im Theater ihrer Gesundheit, ja womöglich ihres Lebens nicht mehr sicher sind, werden sie den potentiellen Infektionsherd Theater meiden. Und womöglich erst wiederkommen, wenn der Impfstoff überall verfügbar ist. Wie viele Theater würden das durchstehen?

Deshalb war es richtig, dass die Bühnen ihre Parketts entstuhlt oder ein Viertel der Sitze gesperrt haben. Auch als ein Signal der Sorgfalt an ihr Publikum: Hey, bei uns seid ihr in guten Händen, wir passen auf euch auf, wir minimieren das Risiko! Und deshalb wäre es richtig gewesen, dem gerade angelaufen reduzierten Betrieb erstmal Gelegenheit zu geben, sich epidemiologisch zu bewähren. Aber jetzt geht erneut alles drunter und drüber.

Ich liebe das Theater wirklich mit ganzer Seele. Und ich sehne mich danach, endlich wieder lebendiges, vitales Theater ohne lästige Corona-Zeremonien zu erleben. Aber ich finde, zu diesem frühen Zeitpunkt ist das Risiko zu groß. Ich würde mir wünschen, dass das Vorgehen besser koordiniert wird. Stattdessen erleben wir bei den Corona-Lockerungen ein Vogelschießen der Schnellschützen. Aber für solcherart Wettbewerb ist die Kunst, sind die Theater einfach zu kostbar.