Britten: Peter Grimes Chandos, CHSA 5250(2)

CD: Peter Grimes

Ein Wunder: Eine relevante, hoch spannende Operngesamtaufnahme, zumindest aus den Randbereich des Standardrepertoires. Echtes Theater für die Ohren, also ein ideales Weihnachtsgeschenk für jeden Musiktheater-Fan – und eine große Ausnahme auf dem Tonträgermarkt.

Denn das „Goldene Zeitalter“ der Opernaufnahme auf Tonträgern ist schon seit längerem vorbei. Vor zwanzig Jahren verkaufte man bereits in der Veröffentlichungswoche weltweit eine hohe fünfstellige Anzahl der durchaus nicht billigen Tonträgerboxen, wenn die Qualität und das Marketing stimmten und das gewählte Stück nicht zu abseitig war. Man konnte zeitaufwendig produzieren (Herbert von Karajan soll allein für die arienkurzen Doppelquartette in Verdis „Falstaff“ zehn Tage geprobt haben – im Jahr 1956) und gleichzeitig wirtschaftlich prosperieren.

Heute freuen sich die Klassik-Label bereits ausgelassen, wenn es ihnen gelingt, im ersten Veröffentlichungsjahr überhaupt 10.000 Exemplare einer Neuaufnahme abzusetzen. Weltweit, versteht sich. In der Regel gelingt das nicht. Also bucht man Stars, schneidet Live-Aufnahmen mit, versucht die Aufnahmezeit so restriktiv wie möglich zu begrenzen. Dennoch kommt hier und da Hörenswertes heraus, vor allem im Nischenbereich, wo man sich immer noch etwas mehr Zeit nimmt; sei es bei den Romantik-Ausgrabungen des Palazzetto Bru Zane, Christophe Roussets Barock-Einspielungen beim Label Aparte oder Warners Aufnahmen von „Les Troyens“ und „La damnation de Faust“ mit dem Berlioz-Spezialisten John Nelson, übrigens, Zufall oder nicht, sämtlich französische Opern.

Dass aber ein dem Mainstream nahestehendes Werk aufregend neuinterpretiert und in absolut jeder Hinsicht werkgerecht aufgenommen wird, ist meines Erachtens mehrere Jahre lang nicht vorgekommen. „Peter Grimes“ war 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, Benjamins Brittens Durchbruch als ein führender Opernkomponist seiner Zeit. Als sein eigener Dirigent nahm er 1958 sein sowohl als gesellschaftliche Parabel als auch als Psychogramm eines Individuums und einer Dorfgemeinschaft bezwingendes Opus 33 auf Schallplatte auf. In der Hauptrolle brillierte Brittens lebenslanger Partner Peter Pears als introvertierte, verwundbare Seele in Fischergestalt. 20 Jahre später setzte Colin Davis seine Lesart dagegen, mit dem raumgreifend aggressiv-verzweifelten, riesenstimmigen Jon Vickers in der Hauptrolle. Das Stück schien musikantisch erforscht, der Interpretationsspielraum ausgeschritten, zumal Richard Hickox (mit Philip Langridge in der Titelrolle) eine sehr ausgeglichene Alternative anbot und Bernard Haitink in seiner sonst eher durchschnittlichen Aufnahme die „Neben-Hauptfiguren“-Darsteller Felicity Lott (Ellen Orford) und Thomas Allen (Balstrode) auf einsame Höhen führte.

Edward Gardner erfindet das Stück in seiner in diesem Herbst beim in Colchester, Essex ansässigen Label Chandos erschienenen Aufnahme nicht neu. Er erfasst es zeitgemäß und mit großer Frische und Finesse, gemeinsam mit „seinem“ Bergen Philharmonic Orchestra und vier in dessen geographischem Umfeld ansässigen Chören, die alle hervorragendes Englisch singen. Nach Proben und Aufführungen einer Bühnenproduktion in der norwegischen Klein-Metropole ging es im November 2019 für drei Tage zur Aufnahme-Session in die Grieghalle. Die sechs, die Szenen im Stück voneinander trennenden „Sea Interludes“, bekannt beliebte Konzertstücke unserer Zeit, waren bereits einen Monat vorher aufgenommen worden, wohl zur Einleitung der heißen Phase der Produktion.

 

Das Bergen Philharmonic Orchestra © Oddleiv Apneseth

Das Bergen Philharmonic Orchestra © Oddleiv Apneseth

 

Gardner, bis 2015 Chefdirigent der English National Opera erzählt das Stück sehr bewusst. Er entwickelt die Beziehungen der Figuren zueinander aus den vielen Ensembles heraus. Dabei heißt es eindeutig: Peter Grimes hier – alle anderen dort. Stuart Skelton, mit dunklem, etwas säuerlich klingenden, aber zu Ausdrucksnuancen und Legato fähigem Tenor, balanciert in der Titelfigur auf dem Grat zwischen Pears und Vickers: kein Monster, keine zarte Seele; nur ein fühlender Mensch, der in diesem Leben keine Chance hat. Das Bewusstsein davon führt zu unkontrollierbaren Wutanfällen wie zu kommunikativen Aussetzern.

 

Stuart Skelton (Peter Grimes) mit jugendlichem Statisten bei der Kostümprobe der Bergener Bühnenproduktion © Monika Kolstad

Stuart Skelton in der Titelrolle auf der Kostümprobe (mit jugendlichem Statisten) © Monika Kolstad

 

Diesem Protagonisten stellt Gardner das komplette Ensemble entgegen. Er lässt Erin Wall als Ellen ohne große Emphase agieren, fast sachlich, mit distanzierend eingesetztem Vibrato. Erst in der letzten Szene dürfen Mitgefühl und Stimme wirklich strömen. Und Roderick Williams verändert die Balstrode-Figur allein durch seine helle Bariton-Stimme und seine liedhaft elaborierte Diktion. Die traditionelle, klischeenahe Wärme des Seebärs verliert sich, wandert gleichsam vom Herz ins Hirn. So sind beide Figuren hier nicht mehr Mittler zwischen dem Borough und Grimes, sondern eindeutig Teil der Dorfgemeinschaft. Deren Fundament bildet der vielstimmige Chor, der wohl selten so differenziert, so brillant, auch so vogelwild zu hören war.

Dazu kommt ein handverlesenes Ensemble, in dem großartige Charakterdarsteller (Susan Bickley als Auntie, James Gilchrist als Rector, Catherine Wyn-Rogers als Mrs. Sedley, Neal Davies als Swallow) auf bildschöne Stimmen treffen (Robert Murray als Boles, Barnaby Rea als Hobson). So wähnt man sich beim Hören jederzeit in der Geschichte, fragt sich, was man selbst tun würde und könnte in einem derartigen Konflikt. Und genießt den Klang, der stets transparent bleibt, im lyrischen Aufblühen wie in der dramatischen Ballung, im schlanken Übergang wie im breit angelegten Stimmungsbild. Stets hört man gleichzeitig das Ganze, jede einzelne Stimme und deren Zusammenwirken im Klangraum – eine Meisterleistung der bekanntermaßen außergewöhnlichen Chandos-Toningenieure, gefördert durch Interpretatorische Klarheit und nahezu perfekte musikalische Umsetzung.  

Sie hat sich in diesem Fall also wirklich einmal wieder gelohnt, die gewaltige Anstrengung, die mit jeder Opern-Gesamtaufnahme verbunden ist. Hoffentlich lohnt sie auch an der Kasse.

Benjamin Britten: Peter Grimes, 2 CDs, Chandos, CHSA 5250(2)